Jam (2018)

Über das Handeln in der Aussichtslosigkeit

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Hiroshi (Sho Aoyagi) singt die schnulzigsten Schnulzen – und hat damit enormen Erfolg bei den Damen mittleren Alters. Nach einem kleinen Konzert für den Fanclub sitzt er verschwitzt am Bühnenrand für eine Gesprächsrunde mit seinen Anhängerinnen – er kennt sie, aber sie kennen ihn noch viel, viel besser, denken sie zumindest. Und sie sind ergriffen von seiner Präsenz, sie lobhudeln, er bedankt sich artig. Danach läuft er mit seinem Rollkoffer heim und wird dabei von einer der Damen angehalten. Sie schwärmt von ihm, er macht Komplimente, sie bietet Suppe an. Er läuft weiter. Torkelt. Schlurft. Stürzt. Sie hat ihn verfolgt, ist bei ihm, er deliriert, die Suppe war mit irgendwas versetzt. Dann hat sie ihn bei sich zuhause auf einem Stuhl gefesselt, weil sie ihn ja so gut kennt, dass ein gemeinsam komponiertes Lied, nur für sie, der Höhepunkt des Auftritts in der Stadthalle am nächsten Tag sein soll.

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Der Fan, der sein Idol kidnappt: Eine der drei Stories, die SABU in Jam erzählt; einer von drei Erzählsträngen, die zunächst leicht, dann immer mehr ineinander verdreht werden. Drei Erzählstränge, die es SABU ermöglichen, seine Stärken auszuspielen: Das Timing, die Dynamik der Inszenierung; und das Spiel mit den Genres, die Übergänge von einem zum anderen, das durchmischte Miteinander von Standards, die man schon gesehen hat und nun neu kennenlernt.

Da ist neben dem Fan-Psychothriller die Yakuza-Action: Tetsuo (Nobuyuki Suzuki), schlaksig und schweigsam, kommt aus dem Knast. Sucht einen alten Kumpel auf. Zieht aus der hinteren Jeanstasche einen Hammer und benutzt ihn – das Ganze in ein paar Einstellungen, schnell und lakonisch, und zack sind wir im Hinterzimmer, wo die Bande Geld zählt, den nächsten Beutezug ausbaldowert – und bam!, landet der Hammer auf einer Hand. Und ein Kampf entbrennt, Tetsuo gegen zehn, und er hat nichts zu verlieren und er hat nur das Ziel zu verletzen und zu töten und ihm ist alles egal – und deshalb gewinnt er und geht heim. Zu seiner dementen Oma, die er im quietschenden Rollstuhl durch die Stadt schiebt.

Im Bildhintergrund sieht man dabei wie Hiroshi zusammenbricht, wie sein kidnappender Wahnsinnsfan sich um ihm kümmert und: Takeru (Keita Machida). Der fährt in 'ner Luxuslimo rum auf der Suche nach guten Taten. Denn, so bekommen wir alsbald mit: Seine Freundin liegt im Koma. Im Krankenzimmer hat er einen Kalender, er trägt ein, wenn er etwas Gutes getan hat. Er weiß, ganz bestimmt und vollkommen sicher: Noch drei gute Taten, und sie wird erwachen. Das ist die dritte Geschichte, die über den von Gott zur Güte Berufenen.

Und irgendwann erkennen wir in einer Rückblende, wie es dazu kam, dass die Freundin in der Klinik liegt. Und irgendwann ist auch klar, wo das alles hinführen wird. Die Dramaturgie ist hochinteressant – nämlich nicht einfach drei Handlungen, die aufeinander zulaufen und im Filmfinale aufeinanderstoßen. Sondern: Am Anfang verzweigt sich ein Strang, der dann parallel verläuft; und zugleich stößt ein Strang dazu zur späteren Vereinigung – eine Dynamik der Erzählungen, die die Dynamik des Filmrhythmus bestimmt. Eine Dramaturgie, die die Spannung hochhält, ohne künstlich aufgeblasen zu wirken.

Über allem – zwischen Entführung, Rache und Drama – liegt ein Humor des Erzählens, schwarz, lakonisch, fast fatalistisch: Die Protagonisten sind in ihr Schicksal geworfen, und zugleich nicht hilflos ausgeliefert, sondern mit der Möglichkeit, sich zu entscheiden. Tetsuo kämpft. Immer wieder, und da greift SABU tief in die Coolness-Kiste: Die Gangster fighten auf der Straße, die Oma im Rollstuhl steht dabei. Die Gangster fighten auf einer Brücke, die Oma rollt fast weg. Die Gangster fighten im Stadtpark, am Ententeich, in der Nacht… Tetsuo wird angeschossen, bekommt ein Messer in den Rücken, aber er bleibt aufrecht, seine Gegner dezimiert er mit Hammer und Entschlossenheit. Und die Oma steht dabei.

Eine höhere Macht hat Takeru eingeflüstert, Gutes zu tun. Und er tut es. Das Gute wird zu ihm zurückkehren, wird ihn einholen, wird alles wieder richten. Er handelt, das ist naiv, aber auch anrührend, und es bringt ihn ungeahnt zurück zum Ursprung seines Traumas. Karma-Konfrontationstherapie, sozusagen.

Hiroshi dagegen, in der Gewalt der fanatischen Anhängerin, ist zur Reglosigkeit verdammt. Doch auch er hat die Möglichkeit, sich zu wehren. Weil er, als Showkünstler, dann doch die Fäden in der Hand hat gegenüber seinen Fans, die eben doch lediglich von ihm abhängig sind.

Zuvor war SABUs Mr. Long in den hiesigen Kinos: Die Story eines Auftragskillers, der untertauchen muss und als Koch Zugang findet ins soziale Netz der Vorstadt. Nun geht er von der anderen Seite ran: Die Protagonisten entschließen sich, angesichts ihres Loses zu handeln. Und das tun sie nicht einfach so, sondern – und das ist ein Drittes, was SABU meisterlich schafft: Sie tun es in Bildern, die gewaltig sind – etwa: wie eine Frau durch eine Windschutzscheibe auf die Kamera zufliegt, in Zeitlupe –; so dass der Look der Inszenierung und die drei Handlungen miteinander verschmolzen zu etwas Erhöhtem werden.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/jam-2018