Das freiwillige Jahr (2019)

Der Schritt hinaus

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Hinaus ins Leben soll sie nach dem Abitur und nicht wie ihr Vater Urs (Sebastian Rudolph) irgendwo in der ostwestfälischen Provinz versauern. Dies ist der unausgesprochene Anspruch, der über Jette (Maj-Britt Klenke) schwebt. Und weil ihr Vater als niedergelassener Arzt Verbindungen hat, hat er seiner Tochter eine FSJ-Stelle in einem Krankenhaus in Costa Rica besorgt - womöglich hofft er ja darauf, dass sie später einmal seine Nachfolge antritt oder zumindest Medizin studiert, auch wenn das nie so genau ausformuliert wird. Nur - will Jette das wirklich?

Glücklich wirkt sie jedenfalls nicht, während ihr Vater durch das Haus hektikt, den VW-Bus mit Koffer und Rucksack belädt und zum Aufbruch an den Flughafen drängt. Doch halt, die Kamera fehlt noch, die Jette unbedingt mitnehmen will, die ist bei Falk (Stefan Stern), dem Bruder von Urs, der ein eher unstetes Leben führt und in einer von seinem Bruder angemieteten Wohnung lebt, immer mit einem Bein vor einen Rückfall in die Sauferei - ein Wackelkandidat, einer der im Gegensatz zu Urs sein Leben nicht im Griff hat.

Doch Falk geht nicht ans Telefon, öffnet nicht die Tür, reagiert nicht auf Gehämmer und scheint sich, so vermittelt es zumindest ein Blick durch die Balkontür, in einer hilflosen Lage zu befinden. Also rast Urs wie ein Berserker durch das Mietshaus, während die Zeit drängt und der Abflug immer näher rückt. Und da erscheint es wie eine glückliche Fügung, dass ausgerechnet jetzt Jettes Ex-Freund Mario (Thomas Schubert) auftaucht; die beiden sind zwar frisch getrennt wegen des FSJ, doch darauf kann Urs jetzt echt keine Rücksicht nehmen und schickt die beiden mit dem VW-Bus an den Flughafen, schließlich gilt es einen Flieger zu erwischen. Das allerdings stellt sich als keine gute Idee heraus, denn Jette gerät zunehmend ins Nachdenken, ob das FSJ wirklich das Richtige für sie ist oder ob sie nicht vielleicht doch in der Nähe von Mario bleiben will. Und damit beginnt ein für alle Beteiligten schwieriger Prozess, der am Ende die Karten neu mischt …

Mit kleinem Budget, aber einem genauen Blick auf die Unzulänglichkeiten ihrer Figuren haben Ulrich Köhler (Bungalow, Schlafkrankheit, In My Room) und Henner Winckler (Lucy, Klassenfahrt) einen Film über einen Aufbruch ohne Aufbruch erschaffen, der zwar von Reisen motiviert wird, in dem seine Protagonist*innen aber stagnieren und auf der Stelle treten. Sowohl die Reise nach Costa Rica wie auch der Ausbruchsversuch nach Venedig mit Mario zerschlagen sich, bevor sie überhaupt begonnen haben. Ihr präziser Film entlarvt vor allem den übergriffigen Urs, der seine eigene Stagnation auf seine Tochter überträgt und ihr all das aufbürdet, was ihm in seinem eigenen Leben falsch und misslungen vorkommt. Sie soll es besser haben als er - und es ist ihm völlig egal, was Jette eigentlich will.

Die Entwicklung, die sie im Verlauf des Filmes durchmacht, ist ebenso prägnant wie die ihres Vaters: Erscheint sie am Anfang als verstockter und unreifer Teenager, bekommt man im Verlauf des Films immer mehr den Eindruck, mit welcher Bürde sie durchs Leben geht, wie viele (unausgesprochene und ausgesprochene) Erwartungen auf ihren Schultern lasten, nicht nur seitens ihres Vaters, sondern auch durch Mario, der letztlich nur die Kehrseite der Medaille eines Abhängigkeitsverhältnisses darstellt. Und so gibt es am Ende doch einen Ausbruch - wenngleich einen, von dem man nicht weiß, wohin er führen wird. Aber vielleicht sind ja gerade das die spannendsten Reisen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/das-freiwillige-jahr-2019