Tenet (2020)

Verrückte Zeit

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Kommt er, oder kommt er nicht? Diese Frage bewegte mit Blick auf Christopher Nolans neuen Spielfilm "Tenet" in den letzten Wochen all jene, denen die Zukunft des Kinos am Herzen liegt. In einer Zeit, in der Filmstarts bedingt durch die Corona-Krise reihenweise verschoben werden und manche Großproduktionen wie Disneys "Mulan" direkt zu Streaming-Portalen abwandern, braucht es zwingend einen Blockbuster, der die Lust am Kinoerlebnis wiederbelebt. Nolans jüngstes Werk wird die Branche sicherlich nicht im Alleingang retten. Dass es der Mix aus Agententhriller, Actionkracher und Science-Fiction-Streifen nach langem Hin und Her nun aber – hierzulande sogar früher als in den USA – auf die Leinwände schafft, ist ein erster Hoffnungsschimmer. Umso schöner, dass der Regisseur seinem Ruf als Popcorn-Auteur einmal mehr gerecht wird.

Seit Anbeginn seiner eindrucksvollen Karriere hat sich Nolan der Aufgabe verschrieben, sein Publikum mit seinen Geschichten zu fesseln und zu fordern. Oft sind seine Filme auf derart komplexe Weise strukturiert, dass man sich – anders als üblich im Hollywood-Kino – nicht einfach entspannt zurücklehnen und berieseln lassen kann. Inception etwa bietet großes Spektakel, überwältigende Bilder, verlangt dank seiner Traumthematik aber jederzeit die Aufmerksamkeit des Zuschauers. Nolans Arbeiten versprühen eine Freude am Spiel mit Zeit und narrativen Mustern und schreien in vielen Fällen geradezu nach einer mehrmaligen Sichtung.

Eigenschaften, die auch auf Tenet zutreffen. Einen Film, der überdies das schon mehrfach aufblitzende Interesse des Regisseurs für physikalische Besonderheiten unterstreicht. Im Zentrum der Handlung steht ein Agent (John David Washington), den der Abspann lediglich als „The Protagonist“ ausweist. Ein Mann ohne Namen, der nach einem fast schiefgelaufenen Einsatz im Opernhaus von Kiew in Kontakt mit der ultrageheimen Tenet-Organisation kommt und von einer Bedrohung erfährt, die mittels Inversion, einer besonderen Form der Zeitmanipulation, über die Menschheit hereinbrechen wird. Die Hauptfigur staunt nicht schlecht, als sie zum ersten Mal sieht, was es heißt, wenn die Entropie eines Objektes umgekehrt wird. Abgefeuerte Pistolenkugeln fliegen plötzlich zurück in die Waffe.

Tenet greift das in der Physik diskutierte Phänomen der Zeitumkehr auf, ist aber beileibe keine trockene Abhandlung. Schon im Trailer waren die Worte einer Wissenschaftlerin zu hören, die dem Helden den Rat erteilt, das Konzept nicht verstehen zu wollen, sondern es zu fühlen. Nolan scheint sich hier direkt an den Betrachter zu richten, der – ähnlich wie in Inception – die ungewöhnlichen Vorgänge nicht zu sehr hinterfragen sollte. Selbst wenn man nicht genau begreift, wie die Manipulation der Zeit vonstatten geht, entwickelt der Film eine ansprechende Sogwirkung, was nicht zuletzt an der ultimativen Gefahr liegt, der sich der namenlose Protagonist mit Unterstützung des mysteriösen Neil (Robert Pattinson) stellen muss.

Bis zu einer atemberaubenden Verfolgungsjagd im Mittelteil wirkt Tenet ohnehin wie eine Variation einer James-Bond-Geschichte inklusive häufiger Schauplatzwechsel und krachender Actionsequenzen, die Nolans Denken in großen Bildern demonstrieren. Ein vollbesetzter Opernsaal, der, begleitet von pulsierenden Klängen, durch Vermummte gestürmt wird. Oder ein Flugzeug, das mit voller Wucht in ein Flughafengebäude fährt. Die Eskalationen, die der Regisseur in Szene setzt, sind klug choreographiert und für die große Leinwand gemacht.

Das Spiel mit der Zeit tritt der auch für das Drehbuch verantwortliche Nolan erst mit dem bereits erwähnten Straßenmanöver los, bei dem der Held und Neil einen fahrenden Konvoi attackieren und sich plötzlich rückwärts rasenden Autos gegenüber sehen. Ein Vorgeschmack auf weitere optische Kabinettstückchen sowie das verschiedene Ebenen clever parallel führende Finale, dessen Wucht nachhallt.

Etwas zu wünschen übrig lässt, wie in manchen Arbeiten des ambitionierten Filmemachers, das emotionale Moment. Über die Kunstexpertin Kat (Elizabeth Debicki), die von Andrei Sator (Kenneth Branagh), dem egomanischen Antagonisten, in einer Ehehölle gefangen gehalten wird, soll das Mitleid des Zuschauers aktiviert werden. Ihrer Figur hätte man aber sicherlich noch etwas mehr Entfaltungsmöglichkeiten geben können. Fast nichts erfahren wir außerdem über den von Washington verkörperten Geheimagenten, der sich in seiner empathischen Art allerdings von rauen, zynischen Kinoverwandten wie James Bond unterscheidet. Dass die Zeichnung des Protagonisten rudimentär ausfällt, kann man kritisch sehen. Andererseits schüttelt Nolan auf den letzten Metern einige Informationen aus dem Ärmel, die dann doch ein paar neue Facetten offenbaren.

Am Ende mag Tenet kein Meisterwerk sein. Beachtlich ist aber allemal, dass es dem Regisseur gelingt, klassische Spionageversatzstücke dank der Zeitumkehrungsidee zu einem originellen, eigenwilligen Blockbuster-Stoff aufzuwerten. Wie schön wäre es nur, wenn das notorisch risikoscheue Hollywood Popcorn-Experimenten wie diesem öfters eine Chance gäbe. Jetzt, da Corona die Branche hart getroffen hat, ist dies leider noch unwahrscheinlicher als früher.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/tenet-2020