XY Chelsea (2019)

Verfolgt vom Schatten der Vergangenheit

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Als Anfang 2017 die Nachricht kommt, dass Präsident Barack Obama die Whistleblowerin Chelsea Manning begnadigen wird, ist die Freude im Kreis ihrer Unterstützer groß. Der Dokumentarfilmer Tim Travers Hawkins ist mit der Kamera dabei, als ihre Strafverteidigerin Nancy Hollander die Botschaft am Telefon vernimmt. Er beobachtet auch, wie sie und eine enge Vertraute mit der im Militärgefängnis Fort Leavenworth in Kansas einsitzenden Manning telefonieren.

Weil Manning im Jahr 2010 über 750 000 geheime Dokumente an WikiLeaks weitergab, wurde sie 2013 zu 35 Jahren Haft verurteilt. Damals, vor ihrer Geschlechtsangleichung, hieß sie noch Bradley Manning. Nach sieben Jahren in verschiedenen Gefängnissen kommt die frühere IT-Analystin der US-Armee im Mai 2017 nun also frei. Doch sich wieder in einem Leben in Freiheit zurechtzufinden, erweist sich als steiniger Weg. Chelsea ist eine öffentliche Person, die mit kritischer Aufmerksamkeit konfrontiert wird. Und ihre traumatischen Erlebnisse lasten schwer auf ihr.

Der britische Filmemacher Tim Travers Hawkins nahm 2015 brieflich Kontakt mit Chelsea Manning auf. Sie schickte ihm ein Gefängnis-Tagebuch und er beschloss, einen Dokumentarfilm über sie zu drehen, auch ohne sie selbst vor die Kamera bekommen zu können. Ihre Freilassung gab dem Projekt dann noch einmal eine völlig neue Richtung. Dem fertigen Film sieht man diese Doppelnatur nur insofern an, als mehrere Passagen beispielsweise den Internet-Chat von 2010 mit Adrian Lamo abbilden, in dem sie sich ihm zaghaft anvertraut und ihn um Rat bezüglich der Veröffentlichung der geheimen Dokumente fragt. Auch das WikiLeaks zugespielte Filmmaterial kommt vor, in dem die Welt zu sehen bekam, wie 2007 bei einem amerikanischen Angriff im Irak einheimische Zivilisten und zwei Journalisten getötet werden. 

Vor allem aber begleitet die Kamera Manning auf ihren ersten Schritten in Freiheit, hält fest, wie sie sich zu orientieren versucht in einer Welt, die sich verändert hat. Sie erreicht im Auto das nächtlich beleuchtete New York und erinnert sich, dass gerade Lady Gaga berühmt wurde, als sie zum letzten Mal hier war. Manning genießt es, sich zu schminken, sich schick anzuziehen, und sie sieht so viel selbstbewusster aus, als auf den Fotos, die den blutjungen Soldaten und Whistleblower Bradley Manning zeigen. Dann warten Interviews auf sie, in denen sie sich bohrende Fragen anhören muss. Manning antwortet mit lauter Stimme, klingt gereizt und entnervt. Sie trifft auf eine gespaltene Gesellschaft, die von Präsident Trump regiert wird und in der sie viele anfeinden, als Verräterin von Geheimnissen, gar als Person, die ihrem Land angeblich Schaden zugefügt hat. Andere wiederum sehen in ihr eine Galionsfigur der freien Informationsgesellschaft.

Der Film gibt impressionistisch einen Chor verschiedener Stimmen wieder, nimmt Manning oder die Lichter, die sie im Straßenverkehr wahrnimmt, mit manchmal unscharfer Kamera ins Visier. Es muss schwer sein, sich als Be- und Verurteilte nicht zu verlieren, vor den verwirrenden Eindrücken nicht zu kapitulieren. Manning beschließt, sich politisch zu engagieren, kandidiert sogar 2018 bei der Senats-Vorwahl in Maryland. Sie wird Opfer eines Shitstorms, als sie die Einladung einer früheren Unterstützerin zu einem Treffen der Alt-Right-Szene annimmt. Danach verkündet sie ihren Rückzug aus der Öffentlichkeit.

Hawkins nähert sich Manning behutsam, wahrt stets eine gewisse Distanz, bedrängt sie nicht mit Fragen, mit kritischem Nachhaken. Das kann man bedauern, vor allem weil ihre Beweggründe im Jahr 2010, beispielsweise auch die vielen gehackten Botschaftsdepeschen publik zu machen, nicht tiefer erörtert werden. Auch in anderen Punkten halten sich Manning und Hawkins bedeckt. So erwähnt Manning allenfalls spontan und knapp, wie sehr sie unter den schlimmen, sogar als inhuman kritisierten Haftbedingungen gelitten hat oder auch unter ihrer Diskriminierung als Transfrau. Zu den meisten im Film angeschnittenen Themen findet man im Internet mehr und klarer strukturierte Informationen. Wer sich also vor der Filmsichtung dort kundig macht, kann Mannings kurze, oft sehr angespannt wirkende Einlassungen besser einordnen.

Man lernt eine junge Frau kennen, die große Mühe hat, sich gegenüber ihrer öffentlichen Persona zu behaupten. Manning kann sehr verletzlich, aber auch sehr bestimmt, geradezu verhärtet wirken. Viel Zeit, sich ein neues Leben in Freiheit aufzubauen, bleibt ihr nicht. Der Film endet, nachdem Manning 2019 wieder inhaftiert wird. Sie weigert sich, einer Grand Jury Rede und Antwort über Julian Assange und WikiLeaks zu stehen, aus Prinzip. 

Auf dem Münchner Filmfest 2019 sagt Hawkins im Publikumsgespräch, dass Chelsea Manning derzeit in einem Frauengefängnis einsitzt. Er bezeichnet sie als tragische Figur. Sie habe eigentlich vorgehabt, selbst nach München zu kommen, um den Film zu präsentieren. Dieser verdeutlicht auf sehr bewegende Weise, welch hohen Preis ein Mensch zahlt, der im Alter von 22 Jahren entschied, empörende, menschenverachtende Handlungen des US-Militärs und weitere politisch brisante Dokumente bekanntzumachen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/xy-chelsea-2019