Wenn wir erst tanzen (2019)

Verwurzelt in Hoyerswerda

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

30 Jahre nach dem Mauerfall ist häufig die Rede von der geraubten ostdeutschen Identität und davon, dass sich Menschen mit DDR-Vergangenheit in der deutschen Gesellschaft und Politik zu wenig vertreten fühlen. „Oft habt ihr mir erklärt, das Gefühl von Heimat ist verschwunden“, hört man einen Mann sagen, der sich als Erzähler aus dem Off an die Mitglieder der Laientanzkompanie Hoyerswerda richtet. In der sächsischen Stadt, deren Einwohnerzahl seit der Wende von fast 70000 auf mittlerweile rund 33000 schrumpfte, plagen sich die Verbliebenen auf vielfältige Weise mit Verlusterfahrungen. Doch es tut sich was: Im Rahmen des Projekts Eine Stadt tanzt erkunden tanzfreudige Bürger*innen ihr eigenes Lebensgefühl und erfahren eine kreative Gemeinschaft.

Das Tanztheater, das der ausgebildete Balletttänzer, Choreograph und Filmemacher Dirk Lienig ins Leben gerufen hat, ist nicht die einzige kulturelle Initiative, die sich in Hoyerswerda mit dem Überwinden der kollektiven Sprachlosigkeit oder Niedergeschlagenheit befasst. Aber sie zeigt auf exemplarische Weise auf, wie sich Menschen zusammen ein neues Heimatgefühl erschaffen können, mit dem sie der ganzen Stadt optimistische Impulse geben wollen. Lienig, der im Film als Ich-Erzähler (gesprochen von Uwe Mann) fungiert, dokumentiert im Wesentlichen den Entstehungsprozess einer Inszenierung von Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps. Wenn sich Lienig, der 1970 in Hoyerswerda geboren wurde, im bilanzierenden Filmkommentar der Anrede „Wir“ bedient – „Niemand kann uns nehmen, was wir getanzt haben“ –, dann klingt stets an, dass hier ein Zeugnis ostdeutschen Selbstbewusstseins vor einem gesamtdeutschen Publikum abgelegt werden soll.

Das Gruppengeschehen befasst sich erst mit der Aufarbeitung der Wende und Wiedervereinigung mit ihren Folgen für die Stadt und für individuelle Biografien. Später aber erfolgt der Brückenschlag zum Thema Postkapitalismus. Was passiert, wenn sich Menschen nicht mehr so stark wie heute über ihre Erwerbstätigkeit definieren, wenn sie sich nicht mehr so bereitwillig vermeintlichen ökonomischen Zwängen unterwerfen? Insofern fügt sich dieser Dokumentarfilm in die Reihe der Filme Eggesin möglicherweise und Der große Irrtum, in denen sich Olaf Winkler und Dirk Leth – die mit Lienig für die Regie von Wenn wir erst tanzen verantwortlich sind – bereits mit dem Marktwert aus der Perspektive des ökonomisch gebeutelten Osten Deutschlands beschäftigten.

Die Tanzkompanie, zu der etwa 70 Menschen im Alter von 7 bis 73 Jahren zählen, trifft sich nicht nur im Probenraum. Auf der Suche nach individuellen Wurzeln erkundet sie die Stadt, blickt vom Dach eines Hochhauses auf die übrigen, steht auf einem Stück Brache, auf dem der Grundriss einer Wohnung in einem abgerissenen Plattenbau nachgezeichnet ist. Lienig erinnert sich, wie es hier in seiner Kindheit aussah, als er Hoyerswerda als „die schönste Stadt der Welt“ erlebte. In den 1950er Jahren kamen Arbeiter aus der ganzen DDR in die expandierende Stadt, in der aus Braunkohle Gas produziert wurde. Lienig erinnert an die unrühmliche Abwicklung der DDR-Industrie. Die ausländerfeindlichen Ausschreitungen des Jahres 1991 werden kurz gestreift, bevor Lienig konstatiert: „Wir wurden zum Sinnbild für Arbeitsverlust, Schrumpfung, Ausländerhass und Untergang.“

In Einzelgesprächen, die Lienig aufnimmt, tauchen die Tänzer*innen in die Vergangenheit ein. Als Kinder mochten sie es, Gedichte aufzusagen, zu fotografieren, zu basteln. Was aber wurde aus den Kinderträumen? Silke kam 1989, kurz vor der Wende, in die Stadt. Die Medizinerin, die mit ihrem Mann eine Hausarztpraxis betreibt, fühlte sich seither immer fremd in Hoyerswerda. Erst in der Tanzkompanie, wo sich die Leute im Gespräch öffnen, erkannte sie, dass es in der Stadt andere gibt, die ähnlich ticken. In vielen Biografien ereignen sich berufliche Brüche und Enttäuschungen – so auch bei Lienigs Schwester, der Architektin Dorit Baumeister. Ihr Büro entwirft das neue Bürgerzentrum, aber am Ende schließt sie die Firma entnervt, weil ihre beruflichen Vorstellungen und die finanziellen Bedingungen auseinanderklaffen.

Die Tänzer*innen bringen sich mit allen Sinnen ein, sie proben in der Regel barfuß, sie erfahren Spaß und Gelöstheit. Ein paar Frauen gehen gemeinsam zum Boxen, ein Mann hilft einer Frau bei der Wohnungsrenovierung. Man fährt zur Aufführung nach Dresden. Die Leute bekommen Mut, beflügelt von ihrer Kreativität und von der Gruppe gestützt. Etliche kündigen ihre Jobs, probieren sich mit neuen Tätigkeiten aus. Es fällt auf, dass das Thema Geldverdienen für viele nicht mehr ein Verbot, ihren eigentlichen Träumen zu folgen, darstellt. Diese Erkenntnis fügt sich gut in die aktuelle Diskussion um die Zukunft der Arbeit, die vermutlich nicht mehr so selbstverständlich auf Erwerb ausgerichtet bleiben, dafür aber selbstbestimmter werden kann.

Die bunte kreative Vielfalt, die in der Gruppe freigesetzt wird, spiegelt sich auch in der schnittintensiven filmischen Gestaltung. Archivmaterial, Schwarz-Weiß-Fotografien, Probenszenen, Einzelgespräche, Stadtansichten, Erkundungen auf Baustellen und im öffentlichen Raum verschränken die individuelle Ebene des Erlebens mit der kollektiven. Der sehenswerte Film beweist, dass ein solches, von Bürger*innen aktiv gestaltetes Kulturprojekt Wunden heilen und ein neues Wir-Gefühl erzeugen kann. Heimat hat Zukunft, wenn sich die Menschen als ihre Gestalter begreifen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/wenn-wir-erst-tanzen-2019