Face_It! - Das Gesicht im Zeitalter des Digitalismus (2019)

Zahlen und Figuren als Schlüssel aller Kreaturen

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Es ist neben unserer DNA und unseren Fingerabdrücken der unverwechselbarste Teil unserer Selbst und vor allem jener, den all die Fremden und Bekannten, die uns tagtäglich sehen, als erstes von uns wahrnehmen - unser Gesicht. Und ohne zu hinterfragen, gehen wir ganz selbstverständlich davon aus, dass dieses Gesicht natürlich zu uns gehört. Doch gerade in Zeiten des Digitalismus, in der jedwede noch so große analoge Gewissheit in Bits und Bytes, in Nullen und Einsen und damit in Daten zerlegt werden kann, ist diese uralte Gewissheit keineswegs mehr so selbstverständlich, wie wir das bisher vielleicht glauben mögen.

Ausgehend von einem Pilotprojekt zur digitalen Gesichtserkennung der Bundespolizei in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn am Berliner Bahnhof Südkreuz geht der 1941 geborene Regisseur und Videokünstler Gerd Conradt (Starbuck Holger Meins) der Frage bzw. den Fragen nach Identität im Zeitalter des Digitalen nach. Er tut dies bedächtig, mittels sorgsam ausgesuchter Interviewpartner*innen, die sich dem schwierigen und emotional aufgeladenen Thema in aller Ruhe annähern, es umkreisen, Analogien ziehen und die überwiegend beherrscht ihre Statements und Gedanken beitragen.

Unter den Befragten befinden sich neben dem Künstler Julius von Bismarck und der Staatsministerin für Digitalisierung Dorothee Bär auch Peter Weibel, der Leiter des Zentrums für Kunst und Medien (ZKM) in Karlsruhe, die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel, der Coach Holger Kunzmann, die Ägyptologin Friederinke Seyfried sowie der Künstler, Aktivist und Datenschützer padeluun, der am Schluss den Film dann doch noch dazu nutzt, um einen flammenden Appell gegen die staatliche wie private Datensammelwut zu proklamieren. Gut möglich, dass er dabei vor allem auch Entwicklungen wie jene in China im Blick hat, wo die massenhafte Erhebung von Daten bereits zu einer rigorosen Überwachung der Bürger ausgebaut wurde, das euphemistisch als „Sozialkreditsystem“ betitelt wird.Und wer in diesem System schlechte Werte erzielt, wird drastisch sanktioniert. Zugegeben - bis dahin ist es in Europa noch ein weiter Weg, doch die Gesichtserkennung wäre für eine solche Entwicklung sicherlich eine Schlüsseltechnologie. Und die Erfahrung zeigt, dass, wenn eine solche Technik erst einmal vorhanden ist, sie zumeist auch eingesetzt wird.

Immer wieder baut Conradt geschickt Irritationen in sein essayistisches Werk ein: So filmt er sich gleich zu Beginn des Films mittels eines Selfiesticks in einem (scheinbar nur ins Bild hineinmanipulierten) Wald und behauptet steif und fest, er befinde sich gerade auf dem genannten Bahnhof Südkreuz. Später, ebenfalls mit einem Selfiestick ausgestattet, filmt er sich und die Digitalministerin Dorothee Bär, um dann mit einem Schnitt klarzumachen, dass außerhalb des eng begrenzten Bildausschnitts ein Tonmann steht, der das Gespräch mittels einer Tonangel einfängt.

Gerd Conradt erweist sich in diesem Film als jemand, der verstehen will, was gerade um ihn herum vor sich geht - und dennoch ist auch er nicht frei von einer Agenda, einem selbstgewählten Auftrag, der sich schon früh in seinem Werk andeutet - und auch hier kann man ihn bereits im Filmtitel herauslesen, wenn man ganz genau hinschaut: „Das Gesicht im Zeitalter des Digitalismus“ lautet der Untertitel von Face_It!. Statt des Prozesses der Digitalisierung steht also hier der Digitalismus im Vordergrund als eine Art Ideologie, die es zu umkreisen und zu hinterfragen gilt. Ein Unternehmen, das zwar nicht immer gelingt, das aber immerhin verschiedene Positionen zu einem gern übersehenen Komplex aufgreift und miteinander auf interdisziplinäre Weise verknüpft. Was man selbst daraus folgern mag, das bleibt schon allen selbst überlassen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/faceit-das-gesicht-im-zeitalter-des-digitalismus-2019