The Whale and the Raven (2019)

Letzte Tage im Naturparadies

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Die Luft ist trüb und neblig über dem Fjord im Regenwaldgebiet Nordwestkanadas. Auf den felsigen Steinen einer unbewohnten Insel steht die Meeresbiologin Janie Wray und lächelt glücklich. Im Wasser taucht in Ufernähe der Rücken eines Buckelwals auf. Die Walforscherin und ihre Helfer sichten praktisch täglich eines oder mehrere dieser riesigen Tiere, die sich in der Gegend ausgesprochen wohlfühlen. Doch das wird sich ändern, wenn ihnen die ersten Supertanker in die Quere kommen, die schon bald kanadisches Flüssiggas durch das Fjordsystem zum Ozean Richtung Asien transportieren sollen.

Der Dokumentarfilm von Mirjam Leuze stellt eine paradiesisch anmutende Idylle im Norden der kanadischen Provinz British Columbia vor. Hier sagen sich nicht Fuchs und Hase gute Nacht, sondern der Rabe und der Killerwal. Orcas tummeln sich nämlich auch gerne in diesen Küstengewässern, ebenso wie Seelöwen. Janie Wray wurde in den Killerwal-Clan des Gitga‘at-Stamms aufgenommen, ihr Kollege Hermann Meuter in den Raben-Clan. Dem First-Nations-Stamm der Gitga‘at gehört das zerklüftete Küstengebiet, in welchem die beiden Forscher arbeiten. Die Ureinwohner erlaubten ihnen, im Jahr 2001 hier ihre kleine Forschungsstation aufzubauen.

Die beiden Forscher brachten Unterwassermikrofone an verschiedenen Punkten an und montierten Lautsprecher am Waldrand. Die Wale kommunizieren fleißig – anhand der Rufe kann Meuter beispielsweise erkennen, um welche Orca-Gruppe es sich handelt. Wray fotografiert am liebsten Buckelwale, sie hat ein Verzeichnis angelegt, das ihr erlaubt, individuelle Tiere anhand ihrer Schwanzflosse zu identifizieren. Notch, Cross, Misty – sie gibt den Walen Namen, kennt manches biografische Detail.

Im Jahr 2006 sorgte der Plan eines Unternehmens, für den Export bestimmtes Rohöl auf Supertankern durch die Fjorde zu transportieren, für erbitterte Proteste. Der Film berichtet, dass sich die Gitga‘at zehn Jahre wehrten, mit breiter Unterstützung von Umweltschützern. Schließlich wurde der Plan fallengelassen. Doch die Freude der Walforscher über diesen wichtigen Sieg zugunsten des Meeressäuger-Biotops währte nicht lang. Zum Zeitpunkt des Drehs ist bereits der Bau eines Export-Terminals für Flüssiggas in der 70 Meilen entfernten Stadt Kitimat geplant. Die Supertanker werden nun doch in wenigen Jahren durch die Fjorde fahren, nicht mit Öl, sondern mit Gas beladen. Die First Nations entlang der Küste haben der Regierung und der Industrie ihre Zustimmung vertraglich zugesichert und sollen dafür Gegenleistungen erhalten.

Damit wird Leuzes filmische Expedition in das vermeintliche Naturparadies ganz schön kompliziert. Im Vordergrund steht die Arbeit der beiden Walforscher und ihre Begeisterung für die Riesen des Ozeans, die sich hier so hautnah vom Ufer aus beobachten lassen. Der Lärm der Supertanker, befürchten sie, werde die Wale massiv stören, außerdem könne es zu Kollisionen kommen. Janie Wray ist von ihrem Traum, dass der Fjord eines Tages unter Naturschutz gestellt wird, wohl weiter denn je entfernt. Die Gitga‘at haben ihre Prioritäten anders gesetzt. Eine Texteinblendung verrät, dass sich die Gemeinden der First Nations vertraglich verpflichtet haben, nicht in der Öffentlichkeit Stellung gegen das Projekt zu beziehen.

Es herrscht also ein merkwürdiges Schweigen an Land. Helen Clifton, die alte Matriarchin des Killerwal-Clans, meint, die Außenwelt rücke nun näher heran. Ein junger Ureinwohner gibt sich als Gegner der Tankerverkehrs zu erkennen. Aber Leuze fragt nicht nach, spricht auch mit sonst niemandem über die Entscheidung des Stamms, interessiert sich nicht für die Beweggründe. Dass die Bewohner des Städtchens Kitimat auf den wirtschaftlichen Aufschwung im Zuge des Gasprojekts hoffen, lässt sich dort aus ein zwei Äußerungen heraushören.

Klar wird, dass Leuze nicht gekommen ist, um die heikle Gemengelage zu entwirren und den Film mit trockenen Fakten, mit einem Disput über Chancen und Versäumnisse zu überfrachten. Sie lässt lieber den einheimischen Künstler Roy Henry Vickers eine Legende über den Orca-Chief erzählen, der die Unterwasserwelt regiert. Dazu gibt es eine hübsche Animationseinlage, die auf seinen Zeichnungen basiert. Dennoch verweigern sich die Gitga‘at ja offensichtlich gerade dem platten, von Weißen gepflegten Klischee, dass sie aufgrund ihrer Ureinwohner-Kultur die kompromisslosesten Tier- und Umweltschützer abgeben müssten.

Die wunderbaren Bilder dieses Films machen ihn trotz seiner inhaltlichen Schwächen zu einem lang anhaltenden Kinoerlebnis. Leuze ist auch für die Kamera zuständig, sie schaut am liebsten Janie Wray an Land und auf dem Boot über die Schulter, nimmt mit ihr unzählige Wale ins Visier. Die passionierte Janie Wray bildet den emotionalen Mittelpunkt des stark auf den Moment konzentrierten Films. Luft- und Unterwasseraufnahmen komplettieren den Eindruck perfekten, intensiven Naturerlebens. Die dezente Filmmusik passt gut zu den Walrufen, die immer wieder zu hören sind. Das trübe Wetter, das so oft auf spannende Weise die Sicht auf das Wasser erschwert, die einsame Stimmung auf den Felsen am Waldrand erzeugen eine leise Melancholie.

Möglicherweise können die Wale, wenn die Tanker dann kommen, auf benachbarte Gebiete ausweichen. Davon ist hier nicht die Rede.  Paradiese sind Orte im Kopf, könnte ein Fazit dieses Films lauten, der zugunsten einer diffusen Sehnsucht nach der Utopie viele Fragen offenlässt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/the-whale-and-the-raven-2019