The Whale and the Raven (2019)

Der Gesang der Wale

Eine Filmkritik von Elisabeth Hergt

In den Gewässern rund um Gil Island, einer unbewohnten Insel im Norden British Columbias, kann man zahlreiche Orcas, Finn- und Buckelwale in ihrem natürlichen Lebensraum beobachten und den Klängen ihrer Kommunikation lauschen, die sich wie ein Mantel über die imposante Landschaft legen. An diesem abgelegenen Ort haben die kanadische Walforscherin Janie Wray und der deutsche Walforscher Hermann Meuter im Jahr 2001 zusammen mit der lokalen Gemeinde eine Forschungsstation eingerichtet, um das Leben der Meeresgiganten zu dokumentieren und mit den wissenschaftlichen Daten auch ihren Fortbestand zu sichern. Eine geplante Exportanlage für Flüssiggas gefährdet allerdings das Idyll. Die Filmemacherin Mirjam Leuze hat die beiden Forscher bei ihrer Arbeit begleitet und zeigt neben eindringlichen Bildern vor allem auch, wie sehr man zunehmend den Momenten der Stille hinterherjagen muss, in einer Welt, die nicht mehr im Einklang mit sich selbst ist.

Die Kamera fügt sich langsam der Umgebung und liefert erste Eindrücke einer Naturkulisse, die nicht kommentiert werden muss. Die Schönheit offenbart sich einem unmittelbar, leise und bedächtig. Nur mit den Lauten der Wale wird diese Stimmung schließlich gebrochen. Hermann Meuter hört sich die neusten Aufnahmen an und ist sichtlich beunruhigt, wenn diese natürlichen Geräusche sich mit denen der vorbeifahrenden Frachtschiffe vermischen. Hat man sich der wellenartigen Grundstimmung des Films erst mal hingegeben hat, stört man sich auch bald an fast jedem unnütz erscheinenden Ton. Anhand von umfangreich angebrachten Unterwassermikrofonen und Lautsprechern kann Herman das Verhalten der Wale untersuchen und Veränderungen konkret erfassen. Janie hingegen wird dabei begleitet, wie sie die Wale fotografisch erfasst und durch Treffen und Vorträge andere für ihre Forschung begeistert. Den Walen hat sie Namen gegeben. Sie heißen Notch, Cross oder Misty und bilden eine einzigartige Gemeinschaft.

Janie und Hermann lernten sich 1995 als Assistenten im OrcaLab an der Westküste Kanadas kennen, heirateten und entwickelten ihr sogenanntes Cetacae Lab. Inzwischen leben sie getrennt und widmen sich ihren individuellen Studien, dennoch stehen sie durch ihre Arbeit stets in Kontakt, empfangen Praktikanten und sind unwiderruflich verbunden durch ihre Leidenschaft für die Wale. Leuze folgt den beiden mit ihrer Kamera und nähert sich dabei auch behutsam den First Nations an, die ihre Zustimmung zu dem Projekt gaben, allen voran Helen Clifton, der Matriarchin des Orca-Clans. 2007 wurde Janie in den Orca-Clan und Hermann in den Raven-Clan der Gitga’at First Nation aufgenommen, die im Dorf Hartley Bay wohnen, als einer von 14 Stämmen der Tsimsshian Nation in British Columbia. Eine bewegende Geste, titelgebend für den Film und darüber hinaus ein Verweis auf das Vertrauen, das sich im Umgang miteinander und mit den Walen in dieser so mythisch wirkenden Gegend über die Jahre entwickelt hat. Die Mythologie wird gepflegt und wenn der Geschichtenerzähler Roy Henry Vickers anhand einer Animationssequenz von einem Unterwasserkönigreich erzählt, in dem der Orca Chief herrscht und seinen Lebensraum mit gütigen Worten vor Eindringlingen zu schützen versucht, dann taucht man mit ein in dieses lebendige und farbenfrohe Biotop. In dieser von Melancholie und Hingabe getragenen Dokumentation lässt man sich unweigerlich treiben und genießt die majestätischen Aufnahmen der Wale, die sich ihrer unbestimmten Zukunft noch nicht bewusst sind.

Mensch und Natur drohen unweigerlich ihre Verbindung zueinander zu verlieren. In der Vergangenheit konnte das Enbridge Northern Gateway Pipeline-Projekt für den Transport von Rohöl gestoppt werden. Nun soll die Fjord-Landschaft von multinationalen Energieunternehmen wie Shell als Tankerroute für den Transport von Flüssiggas (LNG) aus dem Nordosten British Columbias, über die Küstenstadt Kitimat nach Asien benutzt werden. Das Projekt gilt mit 40 Billionen Dollar als das größte private Investment in der Geschichte Kanadas. Der Film will und kann dazu kein konkretes Feindbild entwerfen, zumal die First Nations der LNG-Pipeline letztendlich zugestimmt haben und davon profitieren sollen. Wirtschaftlicher Aufschwung und neue Handelswege müssen auch nicht immer im Konflikt mit der Natur stehen, aber gegen Ende hin bleiben Fragen offen, die der Film in diesem Zusammenhang noch expliziter und auch kritischer hätte stellen können. Warum hält sich der Protest diesmal in Grenzen? Mit welchen Mitteln wird in der Zukunft zum Umweltschutz des Territoriums beigetragen und inwiefern ändert sich die Datenerfassung und Nutzung für Janie und Hermann?

Fest steht: die genauen Folgen für die Wale sind schwer abzuschätzen. Sicher aber ist, dass sich die Geräuschkulisse erheblich verändern wird und die Supertanker das Verhalten der Wale beeinträchtigen werden, wenn sie sich ihren Weg durch die engen Wasserwege bahnen. Helen Clifton sagt: „Just enjoy it while you can. Enjoy every moment while you can. The outside world is moving in fast.”

The Whale and the Raven lädt dazu ein, im Moment zu verweilen und sich der Schönheit, Größe und Bedeutung der Natur und ihrer Wesen noch einmal bewusst zu werden. Es ist die Ruhe vor dem Sturm.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/the-whale-and-the-raven-2019