Berlin 4 Lovers (2019)

Geschlechtsreife Großstädter im Digitalzeitalter

Eine Filmkritik von Falk Straub

Unser Liebesleben hat sich längst in digitale Sphären verlagert. Doch was stellen Dating-Apps wie Tinder mit uns an? Verändert das neue Medium auch die Kommunikation? Flirten wir am Smartphone anders als von Angesicht zu Angesicht? Fällt uns die Kontaktaufnahme leichter oder schwerer? In ihrem Debütfilm hat Leonie Loretta Scholl zehn Berliner*innen nach ihren Erfahrungen befragt, scheint dabei allerdings über die eigene Kreativen-Blase nicht hinauszukommen.

Durchweg Positives hat keiner der Interviewpartner*innen zu berichten. Selbst wenn aus dem unbedarften Match zweier Fremder ein Bund fürs Leben geworden ist, überwiegt das Negative an einer Software, deren Anwender sich wie eine Ware ins Schaufenster stellen. Das Wischen nach rechts brachte die Archäologin Blandina und den Animator und Künstler Christen zusammen. Sie stammt aus Rumänien, er aus Dänemark. In Deutschlands Hauptstadt und Kreativ-Zentrale erwarten die zwei ihr erstes Kind. Eigentlich sind sie der lebende Gegenbeweis, dass sich aus einer simplen App Tiefgründiges entwickeln kann. Trotzdem kritisieren sie an Tinder dessen Oberflächlichkeit, das Unpersönliche, den Konsum- und Warencharakter – und sind damit nicht allein.

Die Kritik an einer zunehmend entmenschlichten Datingkultur, deren Protagonist*innen mehr Wert auf Selbstinszenierung, Selbstbestätigung, Ablenkung und Spaß als auf ein Interesse an ihrem Gegenüber legten, zieht sich wie ein roter Faden durch die Interviews. Die erste Euphorie über die neuen technischen Möglichkeiten scheint allerorten der Ernüchterung gewichen. Themen wie Einsamkeit und Alleinsein, das Überangebot an Singles in einer Stadt wie Berlin und das Offenhalten der eigenen Optionen werden im Selbstgespräch vor der Kamera kritisch hinterfragt. Nicht alle geben der App die Schuld. Schließlich gehörten immer auch deren Nutzer dazu. Wer mit sich selbst und seinem Leben unzufrieden sei, sei bei Tinder schlecht beraten, meinen nicht wenige. Die Partnersuche als Glücksersatz sei schon in analogen Zeiten eine schlechte Wahl gewesen.

Scholls Gesprächspartner*innen sind durch die Bank reflektiert und nicht selten selbstkritisch. Ein breit gefächertes Spektrum geben sie dennoch nicht ab: Ur-Berliner sind ebenso wenig darunter wie Durchschnittstypen. Wie und wo Scholl ihre Protagonist*innen gefunden hat, klärt ihr Film nicht auf. Auffällig ist indes die Berufswahl der Interviewten. Als Senior Sales Manager einer Fitness-Kette sticht Benjamin noch am ehesten als Normalo heraus. Alle anderen betätigen sich, wenn schon nicht in Vollzeit so zumindest als Hobby kreativ – von der Requisitenbauerin über die Mediengestalterin und den Art Director bis zum Philosophie- und Filmwissenschaftsstudenten und zum Allroundtalent, das modelt, zeichnet, aus alten Klamotten neue macht und mit einer Freundin einen Podcast betreibt.

Ähnlich kreativ packt Scholl ihren Film gestalterisch an. Sie mixt wunderschön schwebende Luftaufnahmen der Stadt mit schnellen Schnitten und Songs über Berlin. Dazwischen füllt sie die kurzweiligen 72 Minuten reichlich ungelenk mit nachgestellten Spielszenen von Dates. Die interessanten Gespräche mit am Thema interessierten Gesprächspartnern hätten dieser visuellen Politur nicht bedurft. Was neben viel Erwartbarem und zutiefst Erschütterndem (eine der Interviewpartnerinnen berichtet von einer Vergewaltigung) letztlich hängen bleibt, ist das Gefühl, nur einen kleinen, eng begrenzten Ausschnitt des Datingverhaltens geschlechtsreifer Großstädter gesehen zu haben.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/berlin-4-lovers-2019