Atlantique (2019)

Die Geister der Liebe

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Die erste Woman of Colour im Wettbewerb von Cannes ist Mati Diop. 72 Ausgaben hat es gedauert, bis dieser Meilenstein erreicht wurde. Und das in einem Land wie Frankreich, dessen Kolonialismus auch den Senegal, Diops Handlungsort für ihr Erstlingswerk „Atlantique“, vereinnahmte und für immer änderte. Von den noch immer weitreichenden Eingriffen Europas in dieses Land und seine Leute erzählt Diops Film, der anfänglich an einen Dokumentarfilm erinnert.

Tatsächlich ist Atlantique eine Weiterentwicklung von Diops Dokumentarkurzfilm, den sie vor zehn Jahren – da kannte man sie noch als Schauspielerin aus Claire Denis’ 35 Shots of Rum – drehte. Der Atlantik, der ihrem Film den Titel gibt, ist ein unheimlicher Sehnsuchtsort, der das Leben von Ada (Mame Bineta Sane) und Souleiman (Ibrahima Traore) bestimmt. Die beiden sind jung, ihr ganzes Leben liegt vor ihnen, ihre Liebe hat noch die Reinheit und Naivität, die nur eine erste Liebe haben kann. Und doch sind beide schon in einer Sackgasse. Souleiman, der aus ärmlichen Verhältnissen kommt und auf dem Bau rackert, wurde seit 4 Monaten nicht bezahlt und hat Schulden ohne Ende. Ada wird in zehn Tagen in einer arrangierten Ehe an Omar (Babacar Sylla) verschachert. Omar ist reich, ihr Leben wird einfach sein, wird Ada versprochen. Doch diese kann und will ihr Herz nicht schweigen lassen. Bevor es zur tragischen Variation von Romeo und Julia kommt, ist Souleiman plötzlich weg. In ein Boot ist er gestiegen, zusammen mit einigen anderen jungen Männern des Ortes, die ebenfalls kein Gehalt bekamen für den Bau eines riesigen futuristischen Gebäudes, das eine Zukunft suggeriert, die keiner dieser Menschen jemals haben wird. 

Ein klassisches Geflüchteten-Drama würde man vermuten, doch Diops Kameras bleiben an Land. Sie bleiben bei Ada und ihren Freundinnen, die Brüder, Cousins, Liebhaber auf einen Schlag an das Meer verlieren. Nichts bleibt außer das Rauschen des Atlantiks und der Hoffnung, dass die Männer eines Tages wieder zurückkehren. Zehn Tage gehen ins Land. Kein Zeichen von den Verschwundenen und die Hochzeit Adas wird vollzogen. Dann brennt plötzlich das frische, teure Ehebett. Der Luxus, den Omar ihr verspricht, er geht vorerst in Flammen auf und ein Gerücht geht um: Souleiman ist wieder da. Oder gar nicht mitgefahren? Und was ist mit dem plötzlichen Fieber, das die meisten der jungen, verlassenen Frauen erfasst und sie nachts rastlos durch die Straßen treibt?

Atlantique verlässt – und das macht das Werk so spannend – alsbald die realistische Ebene und taucht in die senegalesischer Geisterwelt ein, aus deren Tiefen die Stimmen der Toten und der Lebenden sprechen, die gequält von den repressiven Systemen sind, seien es das des postkolonialistischen, kapitalistischen Landes, das seine eigenen Kinder frisst, oder das der Religion. Es ist der Gram der Männer, die ihre Körper für eine Zukunft verkaufen, die ihnen verweigert wird. Es ist der Zorn der Frauen, die über ihr Leben und ihre Liebe nicht selbst bestimmen können. Grenzen, Regeln, Mauern wohin das Auge reicht – und der Atlantik, egal wie verheißungsvoll er glitzert, ist eine davon. An seinem Ende liegt eine vermeintlich bessere Welt, doch der Weg dorthin ist eine Todesfalle. Die Geisterwelt jedoch vermag den Geschundenen zu neuer Macht zu verhelfen. Losgelöst von allem Weltlichen suchen die Djinns, die Geister, nach Gerechtigkeit und einer Zukunft. Und so kehren die Toten in den lebenden Toten, den zurückgebliebenen Frauen, zurück und sinnen auf Ausgleich, auf Rache, auf ihr Recht. 

Stets melancholisch kommt Atlantique daher. Die gleißenden Tage und die dunklen Nächte, das Meer, die staubenden Straßen Dakars, sie alle sind eingetaucht in das Verlangen, das dem Film aus jeder Pore strömt. Doch so atmosphärisch Diops Werk auch ist, so sehr sie mit ihrer Geschichte die Verknüpfungen der komplexen senegalesischen Kultur aufgreift — in die Tiefe geht sie nicht. Der Film bleibt auf sicherem Boden und ist dabei durchaus charmant. Doch ihm fehlt die Durchschlagkraft, die das Thema und vor allem die Idee der Verschiebung in die Geisterwelt haben könnte. Trotzdem, es ist eine Kraft zu spüren, die für sich spricht und deren emanzipatorischen Untertöne Lust auf mehr machen. Wenn Ada am Ende sagt, sie wird sich immer daran erinnern, was sie vermag und wer sie ist und sie freut sich schon darauf, was aus ihr werden wird, dann stimmt man zu. Und verspürt die Lust, bei dieser Entwicklung weiter dabei zu sein.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/atlantique-2019