Die Wütenden - Les misérables (2019)

Die Elenden der Banlieus

Eine Filmkritik von Maria Wiesner

Es ist kein guter Tag für Stéphane Ruiz (Damien Bonnard), ganz und gar nicht. Der Polizist hat sich zu der Anti-Verbrechenseinheit in Montfermeil versetzen lassen. Ausgerechnet jener Ort im Pariser Großraum, wo 2005 die Unruhen in den Banlieues begannen. Als Kollegen bekommt er Chris (Alexis Manenti) und Gwada (Djibril Zonga) an die Seite gestellt. Im Fond ihres Dienstwagens sieht er das Viertel, in dem er von nun an für Ordnung sorgen soll. Chris erklärt ihm, wer hier für die Muslimbrüder rekrutiert, wer Haschisch vertickt und warum die Schule hier im Viertel „Victor Hugo“ heißt. „Weil der hier Les Misérables geschrieben hat“, wirft Stéphane ein und fügt hinzu: „Hat sich seitdem ja nicht viel geändert.“

Als Chris an einer Bushaltestelle seine Macht an drei Mädchen demonstrieren will, die Gras rauchen, geht Stéphane noch zaghaft dazwischen. Als die drei Polizisten wenig später mitten in ein Wortgefecht geraten, dass kurz vor der Gewalteskalation steht, ist auch dem neuen Cop klar, wie die Grenzen hier verlaufen. Die Anhänger des „Bürgermeisters“, eines Mannes, der im Stil eines Paten für Ordnung im Viertel sorgt, schreien sich mit den stiernackigen Roma-Männern eines Zirkusdirektors an. Erst als die drei Polizisten mit großem Getöse ein Gummigeschoss in die Luft feuern, verstummen die Schreie und es stellt sich heraus, dass ein Junge aus dem Viertel ein Löwenjunges gestohlen hat. Man will es zurück, sonst komme man in 24 Stunden mit Waffen wieder, sagt der muskelbeladene Zirkusdirektor. Chris sieht Chance seine Machtposition gegenüber beiden Gruppen weiter auszubauen und begibt sich mit seinen beiden Kollegen auf die Suche nach dem Löwenbaby. Als sie auf Instagram ein Foto eines Jungen mit Löwen im Arm entdecken und ihn aufsuchen, eskaliert die Situation komplett. 

Regisseur Ladj Ly hat mit Les Misérables seinen ersten Langspielfilm einem Thema gewidmet, das ihn schon lange umtreibt. Er stammt selbst aus Clichy-Montfermeil. Im Alter von 25 Jahren hat er gemeinsam mit dem französischen Künstlerkollektiv Kourtrajmé den Dokumentarfilm 365 Jours à Clichy-Montfermeil gedreht (2007 auf DVD erschienen), in dem er sein Viertel während und nach der Ausschreitungen 2005 zeigte. Nun rollt er das Thema in der Fiktion noch einmal auf und muss sich dabei nicht vorwerfen lassen, dass ihm Distanz fehle. Ein Brennpunktgebiet in den Blick zu nehmen, in dem sich verschiedenste Kulturen treffen, in dem sämtliche soziale Konflikte vorhanden sind, kann schnell ins Klischee abrutschen oder zum Betroffenheitskitsch werden. Ly weicht beiden Fallen elegant aus, in dem er seine Figuren und ihre Konflikte ernstnimmt. Niemand ist hier nur gut oder nur böse. Auch der machtbesessene Chris ist nicht dumm, so sehr man seine machohafte Gewaltdemonstration verabscheut. Jeder hat mit seinem eigenen Gewissen zu kämpfen, hat seine eigenen Gründe dafür, wie er handelt oder dies eben nicht tut.

Und so entsteht das Bild einer Gesellschaft, die jene am Rand längst aufgegeben und vergessen hat. Die froh ist, solange diejenigen stillhalten, sich mit Drogen betäuben und sich gegenseitig bekriegen. Die ihre Macht missbraucht, denn selbst diejenigen, die das Gesetz hier umsetzen sollen, haben Angst oder sind korrupt. Auch sie wissen um den Druck, den eine solche Situation erzeugt, doch alles, was sie tun können, ist die Entladung des Drucks wieder einen Tag aufzuschieben. Ly spielt die Situation bis zum bitteren Ende durch und stellt die Frage, was passiert, wenn sich die Wütenden und Vernachlässigten nicht mehr bekriegen, sondern verbünden. 

Die Anspielungen auf Hugos Werk sind nicht nur im Titel enthalten. Ly nimmt Victor Hugos Idee von den ethisch-guten Taten auf, die für die Verbesserung der Situation sorgen. So versucht Stéphane bei Streitigkeiten dazwischenzugehen, mit den Anführern zu reden, Konflikte durch Dialog und Vertrauen zu lösen. Ging es im Juniaufstand von 1832, um den Hugo seine Romanhandlung arrangierte, noch um den Aufstand der Republikaner gegen die Regierung durch König Louis Philippe I., so hat sich im gegenwärtigen Frankreich die Situation auf anderen Ebenen zugespitzt. Am Ende muss sich Stéphane entscheiden, wie weit sein Glaube an Deeskalation durch Dialog reicht. Da steht er mit gezogener Waffe in einem qualmenden Treppenhaus einem Jungen mit brennendem Molotowcocktail gegenüber. Vom Publikum in Cannes gab es dafür Applaus und Standing Ovations.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-wuetenden-les-miserables-2019