Nomadland (2020)

Auf den Spuren der Arbeitsnomaden

Eine Filmkritik von Maria Wiesner

Amerika sieht sich selbst gern als Land großer Freiheiten. Das lädt die Verantwortung für das eigene Schicksal gern beim Individuum ab. Doch was passiert mit diesen Individuen, wenn sie aufgrund wirtschaftlicher Krisen in Not geraten und wegen finanzieller Engpässe ihr Heim aufgeben müssen? Fern (Frances McDormand) ist so eine Person und sie erklärt gleich in den ersten Minuten von Nomadland: „I’m not homeless, I’m just houseless.“ Nach 88 Jahren schloss die Fabrik, die den Einwohnern in der Stadt Empire in Nevada Arbeit gab. Kurz darauf existierte nicht einmal mehr die Postleitzahl des Ortes. Alle Einwohner mussten die Gegend verlassen. So auch Fern. Die belädt einen kleinen Transporter mit ihrem Hab und Gut und macht sich auf dem Weg, der Arbeit hinterher. Tagsüber schuftet sie in Fabriken, Wäschereien, beim Burgerbraten. Abends schläft sie in ihrem Transporter. Und Fern ist nicht die einzige, auf ihrer Reise durch Amerika trifft sie auf andere Arbeitsnomaden, die wie Zugvögel den Gelegenheitsjobs und der Saisonarbeit hinterherziehen und manchmal auch vor dem bürgerlichen Leben und den Geistern ihrer (Kriegs-)Vergangenheit auf der Flucht sind.

Regisseurin Chloé Zhao nimmt sich des Themas auf ihre eigene Art an, die sie bereits in ihrem Debütfilm Songs My Brothers Taught Me erprobte: Sie arbeitet mit einem sehr offenen Drehbuch, hat eine grobe Geschichte im Kopf, deren Eckpunkte mit der Realität verknüpft sind (das Schicksal der Stadt Empire hat sich so zugetragen) und ist offen für alles, was unterwegs beim Dreh passiert. Ihre Hauptdarsteller sind erfahrene Schauspieler – diesmal Frances McDormand, die den Film mit produzierte und ihre Rolle, wie immer, herausragend spielt. Die anderen Darsteller sind Laien, Menschen, die am Drehort dazustoßen, die ihre eigene Geschichte zu erzählen haben, deren Leben kurz mit dem Film verwoben werden.

Aus diesem Ansatz entsteht jedoch kein Chaos, vielmehr folgt Zhao dem Weg, den die großen Regisseure des italienischen Neorealismo vorbereitet haben: echte Menschen vor die Kamera holen, deren Schicksale sonst im Film keinen Platz fände. Dieser Blick auf die Marginalisierten rückt bei Zhao, wie schon bei Roberto Rossellini und Vittorio De Sica, jene Klasse ins Zentrum, die auf der untersten Stufe der Gesellschaft arbeitet und sie damit am Laufen hält. Bei Songs My Brothers Taught Me waren das die Nachfahren jener amerikanischen Ureinwohner, ohne deren Land die Vereinigten Staaten nicht zu ihrer heutigen Größe hätte gelangen können. In Nomadland sind es jene, die ihr Haus durch Wirtschaftskrisen verloren haben, die ohne soziale Absicherung auskommen müssen, die bei Amazon am Band stehen und dafür sorgen, dass alle anderen zuhause die Konsumgüter erhalten, die sie bestellt haben. Es ist die Armee der Unsichtbaren, die von der Bildfläche verschwinden, die niemand sehen will.

Dass hieraus nicht einfach ein deprimierender Dokumentarfilm wird, liegt auch an Zhaos Kunstverständnis. Denn die Geschichte jener Arbeitsnomaden, die auch etwas über die Geschichte des amerikanischen Freiheitsbegriffs erzählt, verdichtet sie mit filmischen Mitteln zu großer Kunst. Nicht zufällig erinnern die weiten Landschaftspanoramen, die ihr Kameramann Joshua James Richards auf dieser Reise einfängt, an Eröffnungssequenzen großer Western – jener Filme, die wie kein anderes Genre die amerikanische Freiheit thematisieren. Straßen schlängeln sich in die Unendlichkeit der Steppe, Meer bricht sich an Klippen, Menschen irren klein wie Ameisen durch ein zerklüftetes Berglabyrinth. Schönheit findet sich hier in jedem Detail, weil jedes Detail aus der ästhetischen Entscheidung der Regisseurin hervorgeht, was man bemerkt, wenn man einer Szene seine volle Aufmerksamkeit schenkt.

Gleich zu Beginn etwa packt der Film einen damit: Da steht Fern in einer Garage und sortiert im frostigen Winter die Sachen, die sie mit auf die Reise nehmen will. Sie wickelt ein paar Hosen aus, die viel zu groß sind, um ihr zu gehören. Sie hält sie sacht vor sich empor, nimmt sie an ihr Gesicht, atmet ihren Geruch ein – eine letzte Geste der Zärtlichkeit für die Person, die diese Hosen einmal trug. Das ist nicht nur eine kluge Szene intimer Trauer, deren Idee nur in vertrauensvoller Zusammenarbeit zwischen Regisseurin und Darstellerin entstehen kann (nicht ohne Grund hat Frances McDormand für ihre Rolle einen weiteren Oscar erhalten). Was den Moment so intim macht, ist der Schnee, der draußen hinter McDormand leise auf die Landschaft niedergeht – man hört ihn fallen. So detailverliebt ist hier selbst die Audiospur gestaltet.

Solche handwerkliche Perfektion kommt jedoch nie mit großer Geste daher. Zhao unterstellt sie dem Zweck, die Geschichte ihrer Protagonisten zu erzählen. Sie schafft es, auf diese Menschen und Schicksale zu blicken, ohne ihnen die Würde zu nehmen, findet Hoffnung und Gemeinschaft, wo man sie am wenigsten erwartet hätte – denn wirklich frei kann nur sein, wer sich auf die Hilfe anderer verlassen kann, wer groß genug ist, diese Hilfe anzunehmen und wer klug genug ist, sie zu gewährleisten, wenn seine Solidarität gefragt wird. Erst eine Gemeinschaft lässt ein Individuum entstehen, alles andere wäre zäher einsamer Existenzkampf. Nomadland erzählt davon ohne Klischees und moralische Mahnung, aber mit scharfer Beobachtungsgabe fürs Zwischenmenschliche. Zhao ist nicht nur eine kluge Filmemacherin, sie ist eine Humanistin.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/nomadland-2020