Searching Eva (2019)

Alles sprengen

Eine Filmkritik von Lars Dolkemeyer

Der Film Searching Eva: ein Herausfordern von Seh-, Sprech-, Darstellungs-, Distributions-, vor allem aber Denkgewohnheiten. Die Protagonistin Eva Collé (Eva Collé): Feministin, Sex-Workerin, Bloggerin, Model, Abhängige, Feiernde, vor allem aber: Sprengstoff für all diese konventionellen Zuschreibungen. Die Parole – oder eine der Parolen – oder einer der Fetzen einer der möglichen Parolen: don’t attach any meaning to it.

Der Satz ist einem der zahllosen Zwischentitel entnommen, die in der brillant mäandernden Montage von Regisseurin Pia Hellenthal und Cutterin Yana Höhnerbach den keiner Chronologie oder Kausalität folgenden Fluss von Eindrücken segmentieren. Mit dem Flüstern der ununterbrochenen Social-Media-Ausstellung von Evas Leben setzt die sprunghafte, sprenghafte Bewegung des Films ein. Auf schwarzem Grund erscheinen Kommentare, zitiert nach anonymen Ausdrücken von Bewunderung, Irritation, Ablehnung, Hass, Sorge, Fandom unter den Online-Posts der Protagonistin.

Über einen Zeitraum von mehreren Jahren begleitet das Team die junge Italienerin an ihren Wohnorten in Berlin, Athen, bei ihrer Familie, bei den Menschen, die sie zu ihrer Familie macht. Erzählt werden die Bilder, immer wieder sind es tableaux vivants der posierenden Eva, von ihren eigenen Blog-Beiträgen, Gedankenspuren, Ideenfragmenten.

Dabei geht es um viele Dinge nicht – denn Searching Eva will und kann sich, ganz im Sinne seiner Figur, nicht festlegen lassen. Kein Dokumentar-, kein fiktionaler Film, kein Aufruf zur Revolution, keine Feier der substanzgestützten Gelassenheit, kein Coming-of-Age, keine Hipster-Hymne. Und doch: All das mit großer Energie. Und gleichzeitig. Es läuft hinaus und immer wieder zurück auf eine der Antworten Evas, die neben den eingeblendeten Online-Kommentaren ebenfalls auftauchen: don’t attach any meaning to it.

Einen Strich durch die Rechnung herrschender Bedeutungsstrukturen zu machen, darum geht es: Vor dem Panorama des apokalyptisch-explodierenden Berliner Silvesterhimmels neben einem Wäscheständer im Neonlicht eine Wunderkerze halten, während ein traumhaftes Cover von I Started A Joke spielt, die Augen fest auf die Zuschauer*innen gerichtet – das ist nur eines der grandiosen Bilder des Films, all das vereinend, was in seinem Herzen pulsiert.

Wahrhaftigkeit oder Authentizität sind im Zeitalter der allseitig veräußerlichten Online-Persönlichkeit keine sinnvollen Kategorien mehr – ja, die ganze Idee von Kategorien geht ihrem bunten und lauten Ende zu. Es liegt grandiose Selbstbestimmung darin, das eigene Leben permanent und ohne Ausnahme mit den Mitteln vernetzter Medien gestalten zu können und darin jeder Form von Macht eine Absage zu erteilen. Vielleicht lebt diese Utopie des Internets doch, wird sie in letzter Zeit auch totgeredet.

Formal schreit der Film geradezu danach, auch eine Distributionsweise zu entdecken, die abseits des Kinos – in das er zweifelsfrei ebenso gehört – und abseits von Streaming oder Fernsehen liegt und einen radikal neuen Gedanken zur Verbreitung filmischer Bilder fasst. Daraus entwickelt sich die Energie, noch jeden letzten Fetzen etablierter Vorstellungen der Welt in Farben, Vielfalt und Freiheit aufzulösen. Es muss ein Freiraum entstehen, in dem jede*r Mensch als Mensch sich einrichten kann. Wie wundervoll wäre das und wie hart ist der Weg dorthin. Aber auch: Wie laut werden wir ihn erkämpfen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/searching-eva-2019