Present.Perfect. (2019)

Selfie-Panorama

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Beinahe um 360° dreht sich der Kran in der ersten Einstellung um die eigene Achse und gibt damit direkt die dominierende Form des Films vor: das Panorama. Aus rund 800 Stunden mitgeschnittenen Materials hat Zhu Shengze für "Present. Perfect." ein Gesellschaftsportrait aus der Perspektive der Selfiekamera am Smartphone kompiliert.

Noch stärker als in anderen Ländern ist das Streaming in China in den vergangenen Jahren zu einer eigenständigen Unterhaltungsindustrie geworden. Über 422 Millionen Chinesen filmen sich regelmäßig und streamen die Aufnahmen live ins Netz, wo Zuschauer ihnen virtuelle Geschenke schicken können, die sich später zu Cash eintauschen lassen. Das Format hat einige Megastars hervorgebracht, Shengze interessiert sich in Present. Perfect. aber eher für Anchors (so heißen die Amateur-Showmaster) mit kleiner Reichweite, von denen sie ein gutes Dutzend über zehn Monate hinweg begleitet hat. Ein Fenster ins typische chinesische Alltagsleben ist der Film trotzdem nicht geworden. Schließlich gilt es auch im Streamingbusiness seine Zuschauer bei der Stange zu halten. Als Zuschauer finden wir uns deshalb im Führerhäuschen eines Krans wieder, beobachten einen Mann mit ausgesprochen miserablem Rhythmusgefühl beim Tanzen in der Öffentlichkeit. Eine junge Frau auf einer Schweinefarm überlegt, ob sie ihren Stream von der Toilette weiter senden soll und ein Bauer, der reiche Städter am Landleben teilhaben lassen will, nennt seine Nische Agritainment.

Es ist nahezu unmöglich, einen Film wie Present. Perfect. nach gewöhnlichen Maßstäben zu bewerten. Nicht nur gibt es kein Drehbuch von Zhu Shengze, auch die Kameraarbeit ist nicht ihr Werk. Als Regisseurin hält sie sich beinahe vollständig im Hintergrund, läutet den Film lediglich mit einigen Kontext liefernden Texttafeln ein. Danach bleibt die Bühne den Anchors überlassen – und damit einem roh digitalen, oftmals von pixeligen Artefakten durchzogenen Look, immerhin etwas angeglichen durch den Schwarzweißfilter über sämtlichen Aufnahmen. Zhu Shengzes Verdienst ist in diesem Fall also eher das Kuratieren: bestimmte Anchors und Szenen sinnvoll auszusuchen und aneinanderzumontieren. Damit hat es sich die Regisseurin nicht zu einfach gemacht. Es wäre ein Leichtes, die Protagonisten ihres Films als eitle Selbstdarsteller zu verkaufen und dem Phänomen mit Küchenpsychologie zu Leibe zu rücken. Aber so simpel lässt Present. Perfect. sich nicht lesen. Für einige der Anchors bietet der regelmäßige Livestream sicher eine Abwechslung von der Einsamkeit im Alltag mit der Hoffnung auf ein bisschen Ruhm und Anerkennung. Viele geben aber ganz genau acht darauf, was und wie viel sie von sich preisgeben, wollen über bestimmte Themen nicht sprechen. Andere sehen ihre Performance als spezifische Dienstleistung an.

Nicht zuletzt handeln die Anchors und ihre Zuschauer aber untereinander auch ohne sich dezidiert politisch zu äußern ständig aus, was in der Gesellschaft, an der sie partizipieren, sehens- und wissenswert ist – ohne den Umweg über von Regierung und kommerziellen Interessen diktierte Medien. Eine junge Frau erzählt von ihrem Alltag und die Zuschauer bitten sie darum, ihnen ihren Rollstuhl im Detail zu zeigen. Ein Mann mit starken Verbrennungen am ganzen Körper beweist sich selbst seine Stärke, indem er der ganzen Welt sein Gesicht zeigt. Und eine alleinerziehende Mutter, die, wenn der Chef nicht zugegen ist, live von ihrem Arbeitsplatz in einer Fabrik streamt, in der sie im Akkord Männerunterhosen der Größe L näht, antwortet sichtlich genervt auf die vielen Fragen der Zuschauer, die sich mehr für ihr Privatleben als ihre Arbeitsbedingungen interessieren: „Why, does my marital status affect whether youre watching the show?

Immer wieder geraten die Anchors mit ihren Zuschauern aneinander – und wissen sich zu wehren. „Ihr könnt ja wieder fernsehen,“ ruft der Tänzer ohne Rhythmusgefühl seinen Trolls entgegen und in den Sprechpausen fängt sein überfordertes Mikrofon Fetzen der Powerballade auf, die im Hintergrund läuft. „Da gibt es massenweise Leute, die viel besser sind als ich.“ Am Schluss tanzt er den „Gangnam Style“ inmitten einer Traube voller belustigter, teils verunsicherter Menschen, die stehen bleiben, selbst neugierig in die Kamera schauen. Ein Mann rückt ganz nah heran, schaut mit zusammengekniffenen Brauen auf die in Echtzeit angezeigten Beiträge der Kommentatoren und weil in dem Moment der Abspann hereinrollt, sieht es so aus als strenge er sich an alle Namen zu erhaschen. Eine merkwürdige Dynamik des Schauens und Angeschautwerdens.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/present-perfect-2019