Oray (2019)

Scheidung auf muslimisch

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

In einem unbedachten Moment voller Wut und Zorn ist es passiert: Eben noch hat man sie zärtlich Seite an Seite gesehen, dann spricht Oray (beeindruckend gespeilt von Zejhun Demirov) das verhängnisvolle Wort aus: „Talāq!“ Im Islam gilt die Entlassung der Ehefrau durch den Mann in allen vier sunnitischen wie schiitischen Rechtsschulen als rechtlich bindend. Doch der Teufel steckt wie so oft im Detail. Denn es kommt, wie Oray von seinem Imam in Hagen erfährt, durchaus Abstufungen: Wird die Formel nur einmal gesagt, ist die Scheidung widerruflich und der Mann kann die Frau nach einer Wartezeit von drei Monaten wieder zurückholen. Für den zweimaligen Aufruf gilt Ähnliches. Nur wer dreimal das Wort sagt (oder im Falle des erzürnten Oray eher brüllt), dessen Ehe ist unwiderruflich vor Allah geschieden.

Allerdings ist sich Oray nicht mehr ganz sicher, wie oft er tatsächlich „Talāq!“ gesagt hat. Zur Sicherheit geht er von einem Mal aus und so macht er sich von Hagen, wo er wohnt, nach Köln auf, um die Zeit des Wartens dort zu verbringen und auch sein restliches Leben wieder auf die Reihe zu bekommen. Und das gelingt erstaunlich gut, er findet Freunde, einen Job und Anschluss an eine neue Moscheegemeinde. Doch deren Imam sät erneut jene Zweifel in ihm, die er so hartnäckig verdrängt zu haben glaubt. Und so steht die Annäherung an seine Frau Burcu plötzlich wieder in Frage. Denn wer wäre Oray, sich gegen das islamische Recht und damit gegen Allah selbst zu stellen?

Auch wenn manche Szenen, in denen Oray zu sehen ist, wie er vor der Gemeinde predigt und seinen Glauben bekennt, dies zunächst als möglich erscheinen lassen: Oray ist zwar ein konservativer Muslim, aber keinesfalls ein radikaler. Er entspricht nicht dem Klischee und dem Zerrbild, das in den vergangenen Jahren von muslimischen Männern entstanden ist, die von gewissen Teilen der Bevölkerung nur noch als potenzielle oder tatsächliche Terroristen wahrgenommen werden. Er ist ein gottesfürchtiger Mann mit einem verheerend konservativen Weltbild, das ja. Aber er ist kein blindwütiger Fanatiker, sondern viel eher ein Mensch, dem sein Glaube im Wege steht. Denn dass er Burcu liebt, daran besteht eigentlich kein Zweifel.

Mehmet Akif Büyükatalay ist mit seinem Film ein Glücksgriff gelungen: Unspektakulär ist Oray nur auf den ersten Blick, weil er sich der plakativen Schwarz-Weiß-Zeichnung enthält und stattdessen ein differenziertes Bild einer konservativen Welt zeichnet, die mitten unter uns und neben uns existiert. Vor der wir nichts zu befürchten haben, die uns aber dennoch berührt. Weil uns dieser Oray eigentlich ganz sympathisch ist. Und weil er so fest an seinen Glauben glaubt, dass er gar nicht bemerkt, wie sehr der ihn in ebenjenes Gefängnis sperrt, aus dem er sich Befreiung erhofft hat. Ein Schicksal, das er mit anderen ideologisch oder religiös besonders strengen Menschen teilt.

Dank seiner sensiblen Kamera und der pointierten Dialoge, die niemals hölzern, sondern stets durch und durch lebensecht wirken, ist Oray ein beachtliches Debüt geworden, das neue Blickwinkel und Einsichten ermöglicht ins Lebenswelten, die man sonst nur klischeehaft verzerrt auf der Leinwand oder im Fernsehen sieht. Ein Glücksfall wie gesagt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/oray-2019