David Copperfield - Einmal Reichtum und zurück (2019)

Literatur in Bewegung

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Ein junger und ein alter Mann lassen Worte an einem Flugdrachen in den Himmel steigen. Eben noch lasteten sie bleiern auf den Gedanken des exzentrischen Autors Mr. Dick, über Jahre zur Obsession versteinert. Schon liegen sie fröhlich im Wind, als hätten sie nie der Schwerkraft gehört. Eine bezeichnende Szene aus Armando Iannuccis Adaption von Charles Dickens Bildungsroman David Copperfield, einem ungemein luftigen Film. Eine milde Brise weht durch die vielen schweren Buchseiten, die eilig am Zuschauer vorbeirauschen. Kein Eindruck verhärtet sich, kein Zustand kann bestehen, im Guten wie im Schlechten. Die Fortsetzungsgeschichte wird als Sammlung von Eindrücken interpretiert, als Montage eines Lebens. Ein pirouettierender Film über wirbelnde Worte und Sprache in Bewegung, in dem jeder Satz eine Waffe oder ein Schmetterling sein kann. Überschwänglich unreines Kino.

Wie alle Dickens-Romane wurde auch The Personal History, Adventures, Experience and Observation of David Copperfield the Younger of Blunderstone Rookery (Which He Never Meant to Publish on Any Account) schon oft verfilmt. Lässt man BBC-Mitarbeiter eine halbe Stunde lang unbeaufsichtigt, entsteht eine neue zehnteilige Miniserie über Aufstieg und Fall des Flaschenfabrikarbeiters, Prokuristen und Autors David Copperfield. Über seine schwere Kindheit, sein unsicheres Wandeln durch das starre britische Klassensystem, seine beiden Ehen, seine Triumphe und Niederlagen.

Derart hyperkanonisierte Schullektüre scheint nur auf den ersten Blick eine ungewöhnliche Wahl für den vulgären, zornigen Satiriker Iannucci, bekannt für giftige Spottkaskaden wie Kabinett außer Kontrolle oder die Serie Veep. Sein rasantes Dialogkino verändert sich zweifelsohne durch das neue Sujet, es löst sich stärker noch als bei The Death of Stalin von seiner ursprünglichen Fernsehästhetik. David Copperfield – Einmal Reichtum und zurück sucht nach Filmbildern, was in diesem Fall bedeutet: satte Farben, opulente Landschaftsaufnahmen, eine agile, suchende Kamera, das unentwegte Spiel mit der Bildschärfe. Der Grundton ist eine gezierte Schrulligkeit, die entfernt an Wes Anderson denken lässt. Der Film ist episodenhaft, rasant, bunt, quirlig, künstlich, mal wie ein Bilderbuch, dann wieder wie ein Theaterstück. Der galoppierende Rhythmus der iannuccischen Streitgespräche überträgt sich auf die gesamte Diegese. Szenen fallen einander ins Wort, überlagern und widersprechen sich. Doppelbelichtungen zeigen Gedanken und Erinnerungen, und machen damit auch den schriftstellerischen Prozess sichtbar.

Der liegt über der Welt wie eine Folie, die Erinnerung wird zum Palimpsest des Autors. Die Handlung wird gerahmt von einem Auftritt des Schriftsteller David Copperfield (als Kind Jairaj Varsani, als Erwachsener Dev Patel), der einem aufmerksamen Publikum seine Geschichte vorträgt. Von der Bühne tritt er direkt in seine Vergangenheit. Lange steht er physisch neben den Ereignissen, ganz allwissender Erzähler. Der Film ist voll von derartigen Ideen. Wenn der junge David unter den gestrengen Augen seines Stiefvaters Murdstone (Darren Boyd) keinen Satz mehr lesen kann, dann wird der Text zu einem wirren Buchstabenmeer. Verliebt er sich in die schöne, junge Dora Spenlow (Morfydd Clark), dann steht ihr Name auf jedem Straßenschild und sogar in Wolken auf den Himmel geschrieben.

Meist wirkt der Film beschwingt und einfallsreich, nur gelegentlich bricht er unter seiner Überschnörkelung zusammen. Als Kino-Diabetiker bleibt man den gelegentlichen Zuckerschocks von David Copperfield besser fern. Auch der Filmmusik von Christopher Willis hätte ein wenig viktorianische Zurückhaltung nicht geschadet.

Wie bereits angedeutet, ist die Literaturverfilmung vor allem ein Sprachkunstwerk. Iannucci schreibt gewitzt, pointiert und elegant. Sprache drängt als Schrift in die Bilder. Immer wieder werden die Titel der Kapitel eingeblendet. Einmal nehmen die Ereignisse die Form eines Stummfilms an, inklusive Klimperklavier und Texttafeln. Figuren werden definiert durch ihre verbale Kommunikation mit der Außenwelt, ihre Kadenzen und Idiome, durch Timbre und Diktion, Metrik und Tonalität. Sprache ist Indikator für die tatsächliche und angestrebte Klassenzugehörigkeit. Die Beziehung zwischen zwei Menschen wird deutlich durch ihre Gesprächsführung. Ein alter Fabrikbesitzer trägt seine Sätze heiser und müde vor, sein Untergebener wiederholt energisch die letzten Wörter wie sein persönlicher Hype-Man. Die Schwäche des einen wird möglich durch die Stärke des anderen. Die junge, verzärtelte Dora spricht oft durch ihr Hündchen – ihre Beziehung zu anderen ist vermittelt und indirekt. Sie ist anwesend, aber nicht ganz da. Als Davids Mutter stirbt, passiert das im Dialog. Ihr Tod wird in einem Gespräch deutlich, muss dem Stiefvater mühevoll entlockt werden. Im ersten Satz ist sie krank, im nächsten sehr krank, dann gefährlich krank, dann tot. Die Beerdigung ist erst am Samstag, dann war sie bereits am letzten Samstag.

Das Ensemble, das die vertrauten Romanfiguren mit Leben erfüllt, ist so vielfältig wie hochkarätig: Den zerstreuten Autor Mr. Dick spielt Hugh Laurie mit sanften, müden Augen, Iannucci-Stammspieler Peter Capaldi darf leider nicht so herrlich Fluchen wie in The Thick of It. Tilda Swinton verjagt als Betsey Trotwood Esel, von Benedict Wongs Version von Mr. Wickfield wünscht man sich mehr. Ben Whishaws kriecherischer Uriah Heep gemahnt mit Prinz-Eisenherz-Topfschnitt und gebeugter Körperhaltung an Draculas Diener Renfield. Das Figurenkarussell dreht sich schnell, formt eher eine Textur aus verschiedenen Sprechhaltungen, als klare, greifbare Figuren. Identität ist fungibel in der Welt der Geschichte. Selbst die Hauptfigur wechselt sooft ihren Namen, bis sie kaum noch weiß, welcher davon der richtige ist. Autobiographie ist hier auch eine Möglichkeit, sich selbst neu zu entwerfen – mit dem Risiko, dabei das wahre Selbst zu verlieren.

Wenn David schreibt, rezitiert Dev Patel im Voiceover aus Dickens Roman, während im Bildhintergrund die entsprechenden Filmszenen auf die Wände projiziert werden. Wörter erscheinen auf Papier wie aus dem Nichts, der Soundtrack schwingt sich in neue Höhen. Nicht die originellste Darstellung des kreativen Prozesses, aber vor allem auf das Ende des Films beschränkt. Der verliert sich in seinen letzten 30 Minuten ohnehin ein wenig – im Fluss funktioniert er deutlich besser als in der finalen Kristallisation. Ewige Veränderung ist ihm gerade genug, um Rückschritte zu verhindern. David Copperfield kann sich keine Lebensgeschichte leisten, und flüchtet sich in tausend kleine Episoden. Seine Armut treibt ihn in die ewige Bewegung, halb Flucht, halb Streben in Richtung Sicherheit und Freiheit. Nur losgelöst von allem, durch die Schrift abstrahiert, ist er wirklich bei sich selbst. Das gilt für Film und Figur gleichermaßen. Wie die Worte auf dem Drachen wiegen sie sich im Wind – frei, solange wir uns nicht an die Realität der irdischen Anziehung erinnern können.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/david-copperfield-einmal-reichtum-und-zurueck-2019