Wir (2019)

Wir sind Amerikaner

Eine Filmkritik von Thomas Groh

Mit dem Auto raus in die Frische, ins Grüne oder an den Strand, ein paar Tage Urlaub vom Alltag oder einfach mal ein Kulissenwechsel: Im Horror-Genre keine gute Idee – das weiß man seit H.P. Lovecrafts Schatten über Innsmouth und Tobe Hoopers Texas Chain Saw Massacre, ganz definitiv aber spätestens seit Sam Raimis Tanz der Teufel. Und natürlich auch Get Out, Jordan Peeles gefeiertem Regiedebüt, eine beißende Horror-Satire auf den Rassismus insbesondere auch des linksliberalen Teils der USA, mit dem sich der Comedian 2017 schlagartig als Horror-Auteur empfahl. Entsprechend hoch sind die Erwartungen an sein Follow-Up Wir, in dem eine kleine Spritztour ebenfalls den Ausgangspunkt einer Reise in die Welt des Unheimlichen darstellt.

Hier ist es die Familie Wilson – Mama Adelaide (Lupita Nyong'o), Papa Gabe (Winston Duke) sowie Tochter Zora (Shahadi Wright Joseph – eine Entdeckung!) und Sohnemann Jason (Evan Alex) –, die in einem Haus am See unweit vom Strand von Santa Cruz für ein paar Tage abschalten will. Schon bald mehren sich die Anzeichen, dass hier etwas ganz gehörig nicht stimmt: Nicht nur schreckt Adelaide vor dem Strand zurück, mit dem sie ein schwer traumatisches Erlebnis aus ihrer Kindheit in den 1980ern verbindet, plötzlich stehen am Abend auch vier Menschen regungslos vor der Einfahrt des Ferienhauses: Vater, Mutter, Tochter, Sohn – in roten Anstaltsuniformen, mit brauen Lederhandschuhen und mit Scheren in der Hand. Und kaum treten sie aus dem Schatten und in blutige Aktion, gehen den Wilsons die Augen über: „Das sind wir“, bringt der Sohn die Sachlage treffend auf den Punkt.

Allzu viel mehr als diese grobe Skizzierung sollte man über den Plot von Wir eigentlich nicht wissen, wenn man Freude daran hat, sich im Kino von sonderbaren Wendungen und schön platzierten motivischen Echos überraschen zu lassen. Nur soviel sei verraten: Was wie eine Reminiszenz an den Backwood-Horror beginnt und sich zum Home-Invastion-Film auswächst, nimmt schlussendlich die Kurve hin zu ursprünglicheren Genre-Motiven, die sich aus dem Fundus der literarischen Romantik (das Doppelgängermotiv) und deren wissenschaftlichem Nachklapp (Freuds Begriffsdiskussion über das Unheimliche) speisen. Heraus kommt dabei ein schöner, mit viel Freude am Genre umgesetzter Horrorfilm, der lange Zeit viel Spaß daran hat, seine Figuren – und damit auch das Publikum – völlig im Unklaren über das eigentliche Ausmaß des Szenarios zu lassen. Der Film besticht durch seine sorgfältige Inszenierung, das tolle Schauspiel zwischen Schmiere und nackter Panik – insbesondere Lupita Nyong'o hat merklich Freude daran, ihr Gesicht in Gefilde anatomisch-physiognomischer Weirdness abgleiten zu lassen, und Shahadi Wright Josephs sardonisches Lächeln verfolgt einen garantiert bis in die Träume – und einen hauntologisch geprägten, sehr effektiven Soundtrack (Luniz’ Hiphop-Klassiker I’ve got 5 on it als ins Gruselige gewendeter Streicher-Wiedergänge).

So weit, so Genre-Kino also. Wir ist aber eben noch ein Stückchen mehr. Anders als bei Get Out liegt der politische Kommentar hier zwar zwei, drei Schichten unter der ersten Ebene versteckt. Sieht man mal davon ab, dass es immer noch eine politische Geste darstellt, einen fast komplett schwarzen Cast in einem Film spielen zu lassen, der zumindest vordergründig nicht von der afroamerikanischen Erfahrung, Rassismus oder dem harten Straßenleben in Compton handelt (N.W.A.s Fuck the Police läuft dazu passend dann auch in einer Villa, in der Weiße wohnen – eingespielt von einem Smart Home Device, schöner kann man die Entkoppelung des Ausdrucks einer genuin schwarzen Erfahrung zugunsten einer konsumierbaren Allverfügbarkeit kaum auf den Punkt bringen). Doch eigentlich liegt die politische Ebene – wie Edgar Allan Poes „entwendeter Brief“ – hidden in plain sight, zumindest im Originaltitel Us, der sich ja ebenso als Abkürzung für „United States“ lesen lässt.

„Wir sind Amerikaner“, sagt Adelaides Doppelgängerin mit kehliger Stimme an einer Stelle. War Get Out ein (noch während der Obama-Phase konzipierter) Kommentar dazu, dass auch ein schwarzer Präsident an der Spitze der USA den tiefsitzenden Rassismus im Land nicht über Nacht wegzaubert, ist Wir nun Peeles Kommentar zur Ära Trump – gerade so, als wache man auf, nur um sich erst recht in einem Albtraum wiederzufinden. Eine Fallhöhe, die Peele mit einem Kunstgriff erzielt: Die erste Sequenz des Films spielt im Jahr 1986 – Michael Jackson ist als schwarzer Popstar der König der Welt (und Ausdruck eines neuen schwarzen Selbstbewusstseins, ähnlich wie der Erfolg von Bill Cosby …), die damals mit erheblicher Medienwirksamkeit lancierte Aktion „Hands Across America“ wirbt für ein sozial achtsameres, vor allem aber: diverseres Amerika. Man könnte angesichts eines Werbespots dafür (von dem eine Variante auch zu Beginn in Wir zu sehen ist) meinen, der Traum einer auf allgemeiner Gleichberechtigung fußenden Gesellschaft sei zum Greifen nahe.

Als dieser schöne Medienschein 1986 über die Bildschirme flirrte, war Jordan Peele sieben Jahre alt. Größer könnte der Kontrast zu den USA der Gegenwart kaum ausfallen. Us, das ist eben auch der Horror, als Afro-Amerikaner am Wahlabend von Trumps Erfolg dabei zusehen zu müssen, wie ein Staat nach dem anderen rot wird, bis ein rotes Band die USA ganz im Griff hat – so rot wie eben jene Uniformen, die die Doppelgänger im Film tragen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/wir-2019