Der Boden unter den Füßen (2019)

Die Besessenen

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Besessen sind sie beide: Lola (Valerie Pachner) ist ein Wunder an Effizienz und ein wandelndes Businesslexikon auf zwei Beinen, wie ihr einmal einer ihrer Mandanten bescheinigt. Wenn sie nach einem anstrengenden Arbeitstag im Hotel auf eines der Fitnessgeräte steigt, dann hat das etwas Verbissenes an sich. Und wie andere Unternehmensberater ist auch sie stolz auf "48er", wie die Branche zwei durchgearbeitete Tage und Nächte ohne Pause nennt. Doch das Tempo und die Effizienz, die sie sich selbst und anderen abverlangt, hat auch etwas Autodestruktives an sich. 

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Ihre ältere Schwester Conny (Pia Hierzegger) ist auf der Leiter der Selbstzerstörung schon einige Stufen weiter. Sie leidet unter paranoider Schizophrenie und hat versucht, sich mit der Einnahme von 120 Pillen das Leben zu nehmen. Die Nachricht von ihrem Selbstmordversuch erreicht Lola mitten in einem schwierigen Restrukturierungsjob in Rostock. Doch natürlich kann sich die taffe Unternehmensberaterin gegenüber ihren Kollegen keine Schwäche erlauben und fliegt lieber unter fadenscheinigen Vorwänden am Wochenende mal eben nach Wien in die Psychiatrie, in die ihre Schwester eingewiesen wurde. Noch nicht mal ihre Chefin Elise (Mavie Hörbiger), mit der sie eine heimliche Liebschaft hat, weiß um die privaten Befindlichkeiten ihrer Mitarbeiterin und erfährt erst später davon.

Denn Conny lässt sich nicht mehr so einfach aus Lolas Leben verbannen, wie dies bisher der Fall war. Immer wieder ruft sie unter mysteriösen Umständen ihre Schwester an, obwohl sie nachweislich in der Psychiatrie keinerlei Zugriff auf ein Telefon hat. Eines Tages scheint sie gar in Rostock vor dem Hotel zu stehen, in dem Lola ihre Nächte verbringt. Oder stimmt vielleicht auch mit Lola etwas nicht? Sind dies Anzeichen eines Burn-outs oder ist Connys Erkrankung vielleicht Ausdruck einer genetischen Disposition, die irgendwann auch Lola ereilen wird?

Natürlich - und daran zeigt sich, wie groß der Erfolg in Wirklichkeit war - denkt man bei einer Filmfigur wie Lola unwillkürlich an Maren Ades Toni Erdmann. Doch während der die Businesswelt (freilich nur recht vordergründig) vor allem komödiantisch grundiert, hat Marie Kreutzer ihren Film über eine Schwesternbeziehung als Psychodrama mit kleinen Mystery-Anteilen angelegt, das viel eher an Christian Petzolds Yella denn an Toni Erdmann denken lässt. Wenngleich die Spuren und Pfade, die sie in Genre-Gefilde anlegt, nur als Möglichkeiten im Raum stehen bleiben und niemals aufgelöst werden. Eine Unentschiedenheit, von der man sich noch nicht ganz sicher sein kann, ob sie sich zu den Stärken oder den Schwächen des Filmes addiert.

Überhaupt ist der Film vor allem immer dann stark, wenn die beiden Schwestern in direkter oder indirekter Interaktion miteinander stehen, was auch an Pia Hierzeggers beeindruckendem Spiel liegt, während Valerie Pachners Darstellung aufgrund der Fassade, die sie stets aufrechtzuerhalten bemüht ist, ein wenig unter der Kontrolle leidet, die ihre Figur auszeichnet. Schade nur, dass man von diesem faszinierenden Aufeinandertreffen in diesem Film nur sehr wenig zu sehen bekommt. Und so kämpft Valerie Pachner als Lola nicht nur gegen das Gespenst einer allgegenwärtig-fernen Schwester, sondern auch der Film insgesamt mit Leerstellen, denen die ein oder andere Straffung und Konkretisierung gut getan hätte. Dennoch ist Der Boden unter den Füßen ein atmosphärisch dichtes Psychodrama geworden, das dem Werk von Marie Kreutzer eine weitere bemerkenswerte Facette hinzufügt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-boden-unter-den-fuessen-2019