Un café sans musique c’est rare à Paris (2019)

Ich und ich und ich und ich …

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Eine Frau trifft am späten Abend einen Mann in einer Bar und geht mit diesem in dessen Apartment. Eine Frau holt ein Mädchen von der Schule ab und läuft mit dem Kind durch den Park. Sehen wir solche Szenen in einem Film (oder beobachten wir solche Situationen im Leben), glauben wir schnell zu wissen, wer diese Frauen sind: eine Frau auf der Suche nach einem flüchtigen Abenteuer in der ersten Szene, eine fürsorgliche Mutter in der zweiten.

In Un café sans musique c'est rare à Paris zeigt die Regisseurin Johanna Pauline Maier ihre Protagonistin in vielen solchen Momenten, durch die wir als Zuschauer_innen gewisse Rückschlüsse auf deren Leben ziehen. Doch das Skript, das Maier gemeinsam mit Peter Jung verfasst hat, und die Inszenierung sorgen immer wieder für Irritationen. Der vermeintliche One-Night-Stand scheint am nächsten Tag schon eine langjährige Beziehung voller Alltagsfrust zu sein; die vermeintliche Tochter entpuppt sich als Kind einer anderen Frau. Voyages – so der Alternativtitel dieses Werks – ist eine Reise durch Identitäten und folgt einzig und allein der Logik von Träumen. „Aber vorhin haben wir deutsch geredet!“, sagt die Heldin an einer Stelle; ihr Gegenüber beherrscht allerdings weder die deutsche Sprache, noch kann sich der Mann überhaupt an ein „Vorhin“ erinnern. Nichts ist hier gewiss – selbst wenn es am Ende heißt: „Das bin also ich.“

Nach den Bildern eines brennenden Cafés in Paris beginnt der Film vergleichsweise konventionell. Anna (Jana Klein) kommt nachts in der französischen Hauptstadt an, nimmt sich ein Hotelzimmer und muss am nächsten Morgen nach dem Duschen feststellen, dass all ihre Sachen weg sind. Wenn Anna bald darauf in fremden Klamotten durch die Straßen driftet, stellt man sich auf ein Charakterstück über Selbstfindung in der urbanen Anonymität ein, wie man es bereits etliche Male zuvor gesehen hat.

Dann fangen aber auch schon die Abweichungen vom gängigen Narrativ an. An dem Café, das gerade niedergebrannt ist, stößt Anna auf das deutsche Paar Lotte (Jutta Wernicke) und Walter (Rainer Sievert). Die beiden sind touristisch in Paris unterwegs und behaupten, Anna zu kennen – nennen sie jedoch Hanna. Walter hat sogar Fotos von ihr auf seinem Mobiltelefon. Später, nachdem Anna Lotte und Walter wieder verloren hat, kommt es zu besagter Bar-Begegnung und der gemeinsam verbrachten Nacht mit Eric (Pierre Mignard), mit welchem sie am nächsten Tag mitten in einer schweren Beziehungskrise zu stecken und eine Tochter, die Grundschülerin Marie (Nirina Sievert), zu haben scheint. Es folgen unter anderem ein Intermezzo im abendlichen Park mit einem exzentrischen Duo (gespielt von Laurent Gauriat und Claudie Decultis), Konversationen mit der Frau (Valérie Moinet), die Maries eigentliche Mutter zu sein scheint, sowie mit einer älteren wohlhabenden Dame (Liliane Rovère) und Augenblicke in der Stadt, in denen sich diese im Ausnahmezustand zu befinden scheint.

Nicht alle Sequenzen von Un café sans musique c'est rare à Paris verfügen über die gleiche Intensität, um die Spannung durchweg aufrechtzuerhalten; das Schauspiel wirkt in den dialoglastigen Passagen zuweilen etwas hölzern. Dennoch vermag die deutsch-französische Koproduktion mit ihrer experimentellen Erzählweise zu faszinieren. Die Identitätsverwirrungen der Hauptfigur erzeugen immer wieder reizvolle Fragen – und führen insbesondere im Schlussakt zu interessanten visuellen Umsetzungen. So fängt die Kamerafrau Sarah Blum zwei Versionen von Anna im Schuss-Gegenschuss-Verfahren ein: Ich und ich im Gegenschnitt – ein Traum, eine Illusion, möglicherweise … Auch werden die Wechselwirkungen zwischen Kunst und Realität angerissen: Anna fühlt sich seltsam hingezogen zu den Malereien in einem Bildband. Vielleicht sind die aufregendsten Dinge, die wir erleben, nur Projektionen?

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/un-cafe-sans-musique-cest-rare-a-paris-2019