Die Winzlinge - Abenteuer in der Karibik (2019)

Abenteurer mit sechs Beinen

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

Schon alles gesehen im Kino? Womöglich fehlt dieser Anblick dann doch noch: Wie ein von Luftballons getragenes Modellschiff durch die Wolken eines Sturms über dem Atlantik fliegt, gesteuert von einer Spinne und einer Ameise, die sich während des Fluges stumm darüber streiten, ob der Flug durch Opernarien untermalt werden solle; dafür hat die Spinne schließlich extra ihren iPod mitgebracht, vor dem sie wie in Meditation sich niederzulassen pflegt.

Welch wunderbar bizarren Momente entstehen können, wenn man Insekten nicht nur genau zuschaut, sondern sie ein ganzes Stück vermenschlicht, das haben Hélène Giraud und Thomas Szabo mit ihren Minifilmen unter dem Titel Minuscule schon seit Jahren unter Beweis gestellt – spontane Wettrennen zwischen Fliege und Käfer, die atemberaubende Spannung beim Kampf um eine kleine Beere, die auf dem Wasser eines Swimming-Pools treibt...

Die so entstandenen Figuren und Ideen wurden dann 2013 in einem Langfilm neu zusammengetragen: In Die Winzlinge – Operation Zuckerdose kämpfen (gute) schwarze Ameisen gegen (böse, räuberische) rote Ameisen, die ihnen die mühsam aus einer menschlichen Behausung entführte Zuckerdose samt Inhalt wieder entwenden wollen. Entscheidend ist bei dieser nachgerade militärisch anmutenden Auseinandersetzung schließlich ein kleiner Marienkäfer, der sich auf die Seite der schwarzen Ameisen schlägt.

Wenn nun die Insekten zu einem Abenteuer in der Karibik aufbrechen, so ist die Handlung des vorherigen Films hilfreiche, aber nicht notwendige Vorgeschichte: Zuckerdose, Ameisen und Marienkäfer spielen in den ersten Minuten eine große Rolle. Eins folgt auf das andere, und dann ist unversehens ein junger Marienkäfer mit einem Karton Maronenpüree aus Südfrankreich auf dem Weg nach Guadeloupe. Sein Papa lässt ihn aber natürlich keinen Moment allein, sondern reist außerhalb des Kartons mit – bis er den Sohn auf den letzten Metern verliert und beide sich im Urwald des Karibikatolls wiederfinden müssen.

Das ist natürlich nicht einfach – nicht nur sind beide geographisch hier fremd, es lauern natürlich auch reichlich Gefahren, prominent in Gestalt einer Gottesanbeterin, die mit betörend sich weitenden Augen hier wie Kaa aus Das Dschungelbuch ihre Beute zu hypnotisieren und überwältigen versucht. (Das bleibt nicht die einzige filmische Anspielung – Die Rückkehr der Jedi-Ritter wird mehrfach anzitiert, und eigentlich erwartet man minütlich die Ankunft von Doktor Indiana Jones.)

Giraud und Szabo hatten nie Interesse daran, ihre Insekten zu kleinen Menschen zu machen; deshalb sind die Tiere auch anders als in Antz oder Das große Krabbeln des Sprechens nicht mächtig. Hier hat jede Insektenart ihre eigene Sprechweise: Die Marienkäfer tröten leicht kratzig, die Ameisen machen Geräusche wie Trillerpfeifen, während der Ruf der Gottesanbeterin schrill und bedrohlich klingt. Der Film ist also gewissermaßen ein Stummfilm mit Trötgeräuschen, aber trotzdem versteht man fast immer, wovon die Rede ist; dafür sorgen Inszenierung, Kameraeinstellungen und eine klare, nicht zu komplexe Erzählung. Und trotz (oder wegen) so einfacher Mittel gelingen hier Szenen voll echter, unkitschiger Emotionen: Mitgefühl, Trauer, Einsamkeit und Zusammenhalt.

Ästhetisch ist Die Winzlinge – Abenteuer in der Karibik ein Genuss: Die zumeist nur leicht comichaft überzeichneten Insekten sind in größtenteils in der Realität gemachte Naturaufnahmen hineinkopiert; dadurch wirken die Bilder auch insgesamt echter. Hinzu kommen stellenweise sehr trockener Humor und witzige Einfälle: Wenn Käfer und Fliegen so richtig flott durch den Wald rauschen, dann knattern sie wie frisierte Motorräder – um dann entweder quietschend zu bremsen oder mit dem Geräusch einer strapazierten Metallfeder im Spinnennetz zu landen.

Apropos Spinne: Eine solche macht sich, wie eingangs beschrieben, zusammen mit der Ameise in besagtem Modellschiff auf den Weg, die beiden Marienkäfer zu retten. Ihre Reise, die Rettung, in all dem nähert sich der Film dann deutlich dem Genre des Abenteuerfilms an – und reproduziert leider auch eine typische Perspektive dieses Genres.

Hier stoßen die europäischen Marienkäfer auf jene aus der Karibik – und diese scheinen nicht nur seltsam anmutenden Ritualen anzuhängen, sie sind auch, als sich eine Gefahr für alle Insekten abzeichnet, ahnungslos, wie diese zu bekämpfen sei. Es ist der frisch angekommene, patente Käfer aus Frankreich, der sogleich eine Lösung findet und dazu eine Kolonie von Krabbeltieren einspannt, die inszeniert wird wie ein wilder Eingeborenenstamm – großer, dicker Häuptling inklusive.

Die Winzlinge – Abenteuer in der Karibik reproduziert damit an vielen, kleinen Stellen eine kolonialistische Sicht auf die Welt, die unterschwellig dem Käfer von außerhalb natürliche Überlegenheit zuweist – und leider wird das darin als Möglichkeit enthaltene rassistische Potential durch ästhetische Entscheidungen nicht ausgehebelt, sondern eher verstärkt.

Es sind nur kleine, subtile Signale, die in diese Richtung deuten; aber wenn man sie einmal entdeckt hat, lassen sie sich nicht mehr ohne Weiteres aus der Wahrnehmung tilgen. Das ist schade, weil es sich leicht hätte umgehen lassen – und weil hier, in der Karibik, auch der erste wirklich schmatzende Kuss zwischen Käfern unterschiedlicher Kontinente auf die Leinwand gebracht wird. Dieser Liebe hätte man etwas mehr Unschuld gewünscht.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-winzlinge-abenteuer-in-der-karibik-2019