Reiss aus - Zwei Menschen. Zwei Jahre. Ein Traum. (2018)

Zwischen Abenteuerlust und Alltagsfrust

Eine Filmkritik von Falk Straub

Wer träumt nicht davon, alles hinzuschmeißen und abzuhauen? Und wo lässt es sich besser träumen als im Kino? Für all jene, die den Ausbruch aus dem Alltag nicht wagen oder kurz davor stehen und Anleitung benötigen, gibt es Reisefilme. Auf der großen Leinwand hat das Fernweh immer Konjunktur.

Lena Wendt und Ulrich Stirnat, ein Paar um die 30, träumen von Südafrika. Sie war schon dort, möchte ihre Erfahrungen mit ihm teilen. Er hat einen Burn-out und die Reise dringend nötig. Dafür hätten sich die beiden in einen Flieger setzen können. Doch wo bliebe da das Abenteuer? Stattdessen steigen Lena und Ulli in Hamburg in einen Geländewagen, das Zelt auf dem Dach. Aus den geplanten sechs Monaten werden knapp zwei Jahre. Am Kap der Guten Hoffnung kommen sie nie an.

Mal geraten sie in Marokko in die schlimmsten Regenfälle seit 100 Jahren, mal brüten sie an der Grenze zu Mali bei 49 Grad im Stau. Sierra Leone müssen sie wegen der dort grassierenden Ebola weiträumig umfahren. Zweimal wird Ulli selbst krank, hat sich statt der befürchteten Malaria allerdings „nur“ Parasiten eingefangen. Und am Auto ist immer etwas futsch. Frustriert teilt Ulli via Voice-over mit: „Fünf Monate unterwegs, jeden Tag geht etwas kaputt. Jeden Tag muss ich mich drum kümmern. Das allzu bekannte Gefühl der Erschöpfung schleicht sich zurück.“

Der Stress, dem Ulli entfliehen wollte, lässt ihn unterwegs nicht los, weil er anfangs nicht loslassen kann. Während Lena alles Neue überschwänglich umarmt, hat Ulli zu viel deutsche Ruhe und Ordnung mit im Gepäck. Warum er überhaupt mitgefahren ist, fragt sich nicht nur Lena in ihrem Videotagebuch, sondern irgendwann auch das Publikum. Eine Antwort darauf gibt der Film ebenso wenig wie auf die Frage, wie sich das Paar die Reise finanziert. Ullis Unmut wächst. Nach 14 Monaten nimmt er sich eine Auszeit von der Auszeit. Er fliegt nach Hause, kehrt erst sechs Wochen später zurück. Derweil ist Lena froh, auch noch allein zu funktionieren.

Reiss aus zeigt zwei Menschen auf der Suche nach dem Glück, ihrem eigenen und dem als Paar – irgendwo zwischen Abenteuerlust und Alltagsfrust. Von einer heimeligen Wohlfühldoku ist das ein gutes Stück entfernt. Mit jedem neuen Riss am Wagen bekommt Lenas und Ullis Verhältnis weitere Risse. Ein Reisefilm wird zur Beziehungskiste. Ein Film, der dem Publikum die Angst vor dem Fremden nimmt, das Befremdliche an fremden Kulturen aber nicht ausblendet. Dieser differenzierte Blick hebt ihn positiv von vielen Weltenbummlerwerken ab, die sich meist nur in der Art des Fortbewegungsmittels unterscheiden. Und noch etwas ist anders: Lena und Ulli sind nicht nur unbeteiligte Touristen, sondern legen vor Ort selbst Hand an. Dann rackern sie am Strand mit Fischern, helfen beim Bau einer Lodge oder kümmern sich um Meeresschildkröten und Straßenhunde, von denen sie einen aufnehmen und tragisch an ein Krokodil verlieren.

Lena Wendt ist Journalistin, Fotografin und Filmemacherin. Das sieht man ihren Bildern an. Viele davon sind spektakulär – ob ein Güterzug, der einsam und scheinbar endlos durch die Wüste Mauretaniens rattert, oder die unzähligen Traumstrände, an denen das Paar surft. Andere Einstellungen rauschen oder haben Dreck auf der Linse, weil Wendt aus ihrer Reise ursprünglich gar keinen Film machen wollte. Auch das merkt man ihrem Film an, im Guten wie im Schlechten.

Lena und Ulli reisen ohne vorgefertigte Dramaturgie im Hinterkopf, nehmen unvorhergesehene Um- und Seitenwege und jede Menge Anhalter mit. Reiss aus lebt von dieser Spontaneität, von der Offenheit und Gastfreundschaft der unterwegs Aufgelesenen und Getroffenen. Die kommen indes viel zu kurz. Die meisten davon, der Musiker Ziza etwa, der gegen die Regierung ansingt, oder die Lehrerin Mame Sy, die sich tapfer für die Bildung von Mädchen einsetzt, bleiben flüchtige Momentaufnahmen. Ihre faszinierenden Persönlichkeiten erschließen sich weniger im Gezeigten oder im direkten Gespräch als vielmehr im über sie Gesagten.

Kaum eine Sekunde vergeht, ohne dass Lena und Ulli ihre Reise aus dem Off kommentieren. Die Sätze sind knapp, auf den Punkt geschrieben. Indem sie ihre Gefühle verbalisieren, geben die Filmemacher ihrem Publikum aber auch die Emotionen vor. Kluge Ansichten über das Verhältnis von Europa zu Afrika wechseln mit Allgemeinplätzen an der Grenze zum Kitsch. Das ist schade, sprechen viele der Bilder doch für sich selbst. Sehenswert sind sie allemal.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/reiss-aus-zwei-menschen-zwei-jahre-ein-traum-2018