Der Klavierspieler vom Gare du Nord (2018)

Ein Klassiktalent aus der Pariser Banlieue

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Mathieu Malinski (Jules Benchetrit) redet nicht viel, aber wenn der junge Mann aus der Pariser Banlieue ein Klavier sieht, vergisst er die Welt um sich. Auf dem Bahnhof Gare du Nord eilen die Menschen zu den Zügen, aus den Lautsprechern ertönen Durchsagen. Aber Mathieu hat sich mitten im Trubel an das öffentliche Klavier gesetzt und spielt ein klassisches Stück. Pierre Geithner (Lambert Wilson), der künstlerische Leiter des Pariser Konservatoriums, lauscht fasziniert. Er hat ein Talent entdeckt, das aber gar nicht entdeckt werden will.

Mathieu hat die soziale Kluft verinnerlicht, die ihn seit der Kindheit von Gleichaltrigen trennt, deren Begabungen ausgiebig gefördert werden. Pierres Stunde aber kommt noch. Denn Mathieu begeht mit seinen Freunden aus dem Vorortviertel einen Einbruch, der nicht sein erster ist. Anstatt für den Schmuck in der noblen Wohnung interessiert er sich jedoch nur für das Klavier, spielt los und hört die Polizisten nicht kommen. Pierre setzt sich vor Gericht dafür ein, dass Mathieu Sozialstunden auf dem Konservatorium ableistet, statt ins Gefängnis zu gehen.

Mathieu wischt nun im Konservatorium die Böden. Pierre will ihn dazu bewegen, sich von der besten und strengsten Klavierlehrerin im Haus unterrichten zu lassen, die alle nur “die Gräfin“ (Kristin Scott Thomas) nennen. Er meldet Mathieu sogar als den Kandidaten des Konservatoriums für den großen internationalen Klavierwettbewerb an, der in wenigen Monaten stattfinden soll. Er will, dass Mathieu das 2. Klavierkonzert von Sergei Rachmaninoff spielt. Mathieu nimmt Reißaus, kehrt aber zurück, weil die Musikstudentin Anna (Karidja Touré), für die er schwärmt, den Wettbewerb für eine einmalige Chance hält.

Der französische Regisseur Ludovic Bernard (Die Pariserin – Auftrag Baskenland) nennt als Inspiration für dieses Drama die Filme Billy Elliot – I Will Dance und Good Will Hunting. Doch die Dramen, in denen es um sozial benachteiligte oder problembeladene junge Menschen mit einer musikalischen Begabung geht, bilden bereits ein eigenes Subgenre mit Titeln wie Die Kinder des Monsieur Mathieu, Vier Minuten, Der Chor – Stimmen des Herzens, La Mélodie – Der Klang von Paris. Das Thema scheint irgendwie ausgereizt und so muss sich Ludovics Film daran messen lassen, wie er dem Klischee vom unentdeckten oder vernachlässigten Talent, das bei seinem Mentor auch seelischen Halt findet, frische Seiten abgewinnt. Bernard wählt einen unspektakulären, geradlinigen Weg des Erzählens. Gerade indem er die emotionalen Momente nicht auswalzt, sondern knapp und wie beiläufig abhandelt, bekommt das Drama einen realistischen, zeitgemäß wirkenden Ton.

Jules Benchetrit spielt Mathieu mit einer coolen Undurchsichtigkeit, die auf elaboriertes Schauspiel und differenzierte Mimik verzichten kann. Der Junge mit dem neutral-unschuldigen Pokerface drückt sich eben in der Musik aus. Pierre hört in seinem Klavierspiel eine Leidenschaft, ein Beheimatetsein in der Musik, die er auf dem Konservatorium schon lange vermisst. Pierre, den ein Schicksalsschlag schwer getroffen hat, weiß, dass nur die Musik ihn retten kann – und Mathieu hilft ihm, wieder an ihre Kraft zu glauben.

Es macht den Film interessanter, dass er nicht nur um Mathieus Entwicklung, sondern auch um Pierres Probleme kreist. Pierre läuft gerade Gefahr, seinen Posten an einen Rivalen zu verlieren. Während Lambert Wilson seinem Charakter eine verschlossene, dunkle Aura verleiht, hinter der es gewaltig brodelt, gibt Kristin Scott Thomas ihrer Rolle der strengen Klavierlehrerin zunehmend weiche, gelöste Züge. Auch sie hatte vergessen, dass Technik und Fleiß in der Musik nicht alles sind.

Mathieus Verschlossenheit wird zum Teil durch Erinnerungen an den alten Monsieur Jacques (Michel Jonasz) aufgebrochen. Der Mann gab dem Kind bis zu seinem Tod kostenlosen Klavierunterricht und nährte seine Liebe zur Klassik. Der Film beschränkt sich aber nicht nur auf die Musik, die Mathieu spielt, sondern vertont das neue Lebensgefühl, das dieser mit der Cellistin Anna entdeckt, auch mit zeitlos wirkenden Songs aus dem weiten Feld der Unterhaltungsmusik. Mit ihrer schwarzen Hautfarbe entspricht Anna, die so viel jugendliche Frische ausstrahlt, gerade nicht dem Klischee der privilegierten Französin. Aufgrund der leichten, unprätentiösen Inszenierung vermag der Film befriedigend zu unterhalten, obwohl er inhaltlich wenig Überraschendes zu bieten hat.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-klavierspieler-vom-gare-du-nord-2018