Nancy (2018)

Was hätte sein können

Eine Filmkritik von Lucia Wiedergrün

Was bewegt eine Frau dazu, sich wegen eines vagen Verdachts auf eine 30 Jahre alte Vermisstenanzeigen zu melden und damit sowohl das eigene Leben als auch das fragile Gleichgewicht in Gefahr zu bringen, in dem sich die Hinterbliebenen eingerichtet haben? Wie reagieren zwei Menschen, wenn sie nach 30 Jahren erfahren, dass die verschollen geglaubte Tochter möglicherweise wieder in ihr Leben tritt? Müssen Eltern in der Lage sein, ihr Kind über die Entfernungen von Zeit und Raum hinweg unzweifelhaft zu erkennen? Und wenn das nicht der Fall ist, können sie dem standhalten? Aus diesen Fragen heraus entwickelt Christina Choes Spielfilmdebüt Nancy die zwei Ebenen seiner Erzählung, schafft es aber leider nicht, auch nur einer davon vollends gerecht zu werden.

Der Film erzählt von Nancy (Andrea Riseborough), die nach dem überraschenden Tod ihrer Mutter Betti (Ann Dowd) und frustriert von der grauen Langeweile ihres Alltags eines Tages im Fernsehen ihr eigenes Antlitz sieht. Dabei muss sie feststellen, dass es sich bei dem Bild um eine Altersrekonstruktion handelt, die das potentielle Bild von Becky Lynch zeigt, die als Sechsjährige vor 30 Jahren verschwand. Überzeugt davon, dass ihre Mutter sie als Kind entführt habe, macht sich Nancy auf den Weg, ihre wahren Eltern kennenzulernen, die sehr unterschiedlich auf die Nachricht der vermeintlichen Rückkehr ihrer Tochter reagieren. Leo (Steve Buscemi), der Vater, ist zurückhaltend und skeptisch, Ellen (J. Smith-Cameron), die Mutter, ist voller Hoffnung. In dieser Konstellation müssen sie Tage bis zur Urteilverkündung durch den DNA-Test verbringen.

J. Smith-Cameron und Steve Buscemi spielen diese Eltern zwischen Selbstschutz und Hoffnung mit Stolz und Empathie. Ihrem wunderbaren Spiel ist es zu verdanken, dass die Geschichte nicht verkitscht oder überladen erscheint. Dieses Feingefühl überträgt sich dabei leider nicht auf die Figurenzeichnung Nancys. Andrea Riseboroughs zwar eindringliches, aber zugleich enigmatisches Spiel trifft auf eine Rollenzeichnung, die zu vage bleibt, um wirklich Substanz anzunehmen, und die am Ende des Films durch klassische Formen der Sympathiebildung konventionalisiert wird. Das ist umso bedauerlicher, als der Film mit einer ungewöhnlich sperrigen Frauenfigur vielversprechend beginnt. Riseboroughs Nancy scheint zunächst über eben jene Qualität zu verfügen, die Frauen im Kino immer verwehrt bleibt, nämlich unsympathisch zu sein, nicht von Grund auf böse, sondern einfach nur ein bisschen zu komplex, um wirklich sympathisch zu sein. Eben gerade mal keine Frau mit der Mann Pferde stehlen kann.

 

Das Kino kennt die Hure, die Heilige, die Mutter, die Verrückte, die Hexe, das süße Girl von nebenan, die beste Freundin und sogar die Heldin. Doch was ist mit den vielen anstrengenden, unangenehmen Frauen, die unseren Planeten ebenso wie ihre männlichen Pendants bevölkern? Gleichberechtigung heißt, neben Wonder Woman auch diese Frauen zu zeigen – die Frauen, die anstrengen. Das Versprechen, mit Nancy genau so eine Figur zu entwerfen, das der Film in seinem ersten Drittel andeutet, löst er in den letzten zwei Dritteln leider nicht ein. Damit verspielt der Film damit die Chance, mit einer so vermeintlich simplen Idee tatsächlich neues Kino zu machen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/nancy-2018