Das Familienfoto (2018)

Eine schrecklich nette Familie

Eine Filmkritik von Falk Straub

Wirklich geerdete Komödien sind selten. Schließlich feuert die Übertreibung dieses Filmgenre an. Ist nicht schon die Prämisse überlebensgroß, dann sind es allzu oft die Figuren. Statt echten Menschen sehen wir Typen zu, wie in der Commedia dell'Arte auf eine Charaktereigenschaft verengt und häufig durch clowneskes Schauspiel weiter verzerrt. Regisseurin und Drehbuchautorin Cécilia Rouaud legt das Gegenmodell vor: eine unaufgeregte Komödie voller Durchschnittstypen, wobei freilich auch in der von ihr erdachten Familie jeder eine Schraube locker hat.

Gabrielle (Vanessa Paradis) ringt mit ihrem Sohn Solal (Jean Aviat), der lieber bei seinem Vater leben möchte, obwohl er ihn kaum kennt. Elsa (Camille Cottin) ringt mit ihrem unerfüllten Kinderwunsch, mit Ehemann Tom (Laurent Capelluto), ihrer Mutter Claudine (Chantal Lauby), die Versäumnisse aus der Vergangenheit durch eine aufdringliche Dauerpräsenz wettmachen will, und Vater Pierre (Jean-Pierre Bacri), der zu ihrem Verdruss noch einmal Vater wird. Mao (Pierre Deladonchamps) wiederum ringt einzig und allein mit sich selbst. Um aus den Leben der drei Geschwister zu erzählen, bedient sich Rouaud eines simplen wie effektvollen Kniffs. Was die drei eint, ist ihre Liebe zur Großmama (Claudette Walker). Die ist 87 Jahre jung und nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen, weshalb ihre Enkel sie wechselweise zu sich nach Hause nehmen.

Rouaud, die bislang vornehmlich als Regieassistentin tätig war, empfiehlt sich mit ihrem zweiten, erneut von ihr selbst geschriebenen abendfüllenden Spielfilm für Größeres. Ihre Figuren (selbst der lebensmüde Mao) sprühen vor Leben, unterschwelligem Witz und Authentizität, was neben den banalen bis absurden Alltagsproblemen und -situationen besonders an den feinen Dialogen liegt. Rouauds Charaktere sprechen nicht pointiert, sondern natürlich. Ihre familiären Kabbeleien sind weder messerscharf noch ätzend, sondern liebevoll-beleidigend.

Wie das musikalische Titelthema, bei dem sich nach und nach die übrigen Instrumente zu einer Akustikgitarre gesellen, schaukelt sich auch die Handlung hoch. Und wie das Titelthema, das zwischen Swing und Folk pendelt, schwingt auch die Geschichte in einem Resonanzraum zwischen lässigem französischen Arthouse-Kino und Indie-Komödie amerikanischen Zuschnitts. Alle drei Geschwister suchen einen Neuanfang wie im Cat-Stevens-Song Wild World, den ein Musiker in der Metro trällert.

Kleine Szenen wie diese machen Rouauds Drehbuch unglaublich rund. Ihre Geschichte beginnt und endet mit einer Beerdigung und erzählt von einer dysfunktionalen Familie, die gerade aufgrund ihrer Funktionsstörung so prächtig funktioniert. Das wunderbare Ensemble, von Rouauds Regie zu Höchstleistungen angeleitet, vermittelt den Humor ebenso dezent, wie er gemeint ist. Das Familienfoto ist ein stiller Film voll origineller Zwischentöne, unvollendeter Sätze, Gesten und Blicke. Nicht selten steckt der Witz in halbverbalem Gemurmel.

Das Zentrum dieses Films sind jedoch weder die drei Geschwister noch ist es ihre Großmutter. Es ist der kleine Ort Saint-Julien, um den alle Gedanken kreisen. Physisch materialisiert er sich erst in der allerletzten Sequenz, psychisch ist er als Metapher jederzeit präsent. Es ist der Ort einer verlorenen Kindheit, an dem die voneinander getrennten Geschwister mit ihrer Großmutter die Sommer verbrachten und an den sie ihre Großmutter zum Sterben zurückbringen möchten. Ob und wie das gelingt, muss sich jeder im Kino ansehen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/das-familienfoto-2018