Die Gezeichneten (1922)

Dreyers andere Passionsgeschichte

Eine Filmkritik von Falk Straub

Von Filmkritikern, -historikern und -schaffenden wie den Vertretern der Nouvelle Vague gefeiert, galt Carl Theodor Dreyer zeitlebens in der Branche als Außenseiter. Seine Filme spielten schlicht zu wenig ein. Vielleicht erzählte der Däne deshalb mit solcher Hingabe über Randständige und deren Leidenswege. Im Hinblick auf seine streng lutherisch-protestantische Erziehung hat sich die Filmgeschichtsschreibung vielleicht ein wenig zu sehr auf Dreyers christliche Passionsgeschichten versteift. Dabei nahm der 1889 in Kopenhagen als uneheliches Kind einer schwedischen Haushälterin geborene Regisseur in seinem vierten Spielfilm eine andere Leidensgeschichte in den Blick: die der russischen Juden.

Der 1921 in der Nähe von Berlin gedrehte und 1922 uraufgeführte Die Gezeichneten spielt in den Jahren vor und während der Russischen Revolution von 1905. Die Jüdin Hanne-Liebe wird von ihrer Mutter (Adele Reuter-Eichberg) auf eine russisch-orthodoxe Schule geschickt. Dort sitzt das Mädchen zwischen allen Stühlen. Die Lehrerinnen zwingen sie zum täglichen Gebet. Von ihrem Elternhaus erhält sie die Warnung, ihre Herkunft nicht zu verleugnen, wenn sie nicht der gleiche Fluch ereilen solle, der ihren zum Christentum konvertierten Bruder Jakow (Wladimir Gaidarow) getroffen habe.

Ausgrenzung und Schikane sind ihre ständigen Begleiter. 1905 steht die zur Frau gereifte Hanne-Liebe (Polina Piechowska) schließlich vor dem Schulabschluss. Doch ein übles Gerücht über sie und den angehenden Studenten Sascha (Thorleif Reiss) macht die Runde. Hanne-Liebes Freund aus Kindertagen, der Faulenzer Fedja (Richard Boleslawski), Sohn eines russischen Kaufmanns, hat es verbreitet, um einem Gerücht über sich und eine eigene Liebelei zuvorzukommen. Um Hanne-Liebes Ruf wieder herzustellen, soll eine Heirat her. Doch die selbstbewusste junge Frau hat ihren eigenen Kopf und sucht stattdessen in Sankt Petersburg bei ihrem verstoßenen Bruder ihr Glück. Gemeinsam mit Jakow und Sascha, der zum Studium an die Newa gezogen ist, gerät Hanne-Liebe in den Strudel der Revolution.

Die Gezeichneten nach Aage Madelungs Roman Elsker hverandre ist Dreyers erster in Deutschland entstandener Film. Dort sollte 2 Jahre später Michael nach Herman Bangs gleichnamigen Roman folgen. Der Weg ins Ausland war aus der Not geboren. Nach ersten beruflichen Gehversuchen als Kaffeehaus-Pianist, Ballonfahrer, Buchhalter und Sportjournalist erlebte Dreyer die erste Blütezeit der dänischen Kinematografie ab 1912 als freier Mitarbeiter bei der Nordisk Film. Er arbeitete als Cutter und schrieb gut 2 Dutzend Drehbücher. Als er 1919 sein Regiedebüt Præsidenten (dt. Titel: Der Präsident) vorlegte, war die heimische Branche längst im Niedergang begriffen. Nach dem episodischen, an D.W. Griffith' Intolerance (1916) erinnernden Blade af Satans Bog (Blätter aus dem Buche Satans) realisierte Dreyer seinen dritten Spielfilm Prästänkan (Die Pfarrerswitwe) bereits in Schweden, bevor er nach Deutschland und für La Passion de Jeanne d'Arc (Johanna von Orléans) schließlich nach Frankreich ging.

Was die Verfügbarkeit von Dreyers Werk anbelangt, schließt absolut Medien mit Die Gezeichneten eine weitere Lücke. Bislang war das Stummfilmdrama lediglich als Import in einer Doppel-DVD des Dänischen Filminstituts (DFI) gemeinsam mit dem 1926 uraufgeführten Glomdalsbruden (Die Braut von Glomdal) zu haben. Der deutschen Ausgabe liegt die 2006 vom DFI rekonstruierte und vorbildlich restaurierte Fassung zugrunde. Komponist Bernd Thewes steuerte eine neue Musik bei, die die Macher der DVD nicht als „Begleitmusik zu einer Lichtbildszene“ verstanden wissen wollen, sondern als eine das Bewusstsein schärfende „Begleitmusik einer Filmwahrnehmung“. Dafür spielt sich das Trio aus Flöte, Violoncello und Klavier allerdings zu aufdringlich in den Vordergrund. Besonders erstgenanntes Instrument erklimmt dabei immer wieder nervenstrapazierende Höhen. Da es sich um einen Stummfilm handelt, kann man den Ton getrost abdrehen. Mit seinen englischen Untertiteln richtet sich die deutsche Veröffentlichung selbstredend auch an eine internationale Käuferschicht.

Die kann sich in ihren Heimkinos nun auch einen weiteren Baustein aus Dreyers bislang weitgehend vernachlässigtem Frühwerk nähern. Von der Meisterschaft einer Passion de Jeanne d'Arc ist der Filmemacher 6 Jahre zuvor zwar noch ein großes Stück entfernt. Viele seiner Inhalte und Stilmittel lassen sich aber bereits in Die Gezeichneten erkennen: kurze, beeindruckende Kamerafahrten etwa oder Dreyers Vorliebe für detailverliebte Milieustudien, präzise konstruierte Innenräume und ausdrucksstarke Gesichter, die er über Grenzen und Nationalitäten hinweg castete. Sein Ensemble für Die Gezeichneten trug Dreyer an den unterschiedlichsten Bühnenhäusern Europas – von Moskau und Kiew über Oslo und Kopenhagen bis Berlin – zusammen.

Eine bunte Vielfalt, die so mancher dem Regisseur heutzutage vermutlich als mangelnde Authentizität ankreiden würde. Dabei sieht das Publikum den Schauspielern ja nicht an, ob sie aus Russland, der Ukraine, Norwegen oder Deutschland stammen, welcher Religion sie angehören oder ob sie Atheisten sind. Ob gewollt oder ungewollt, spiegelt diese Besetzungspraxis auch die Haltung des Films, der mutig gegen die darin nachgezeichneten Pogrome anerzählt. Denn Hanne-Liebes, Jakows und Saschas Geschichte endet nicht in Sankt Petersburg.

Zurück auf dem Land sät der zaristische Agent Rylowitsch (Johannes Meyer) Zwietracht. Als Wandermönch verkleidet befeuert er althergebrachte antisemitische Klischees, schürt den „Bruder-Hass“, wie es in einem Zwischentitel heißt. Angesichts der weltpolitischen Lage schießen einem unzählige Assoziationen durch den Kopf, als sich der Hass letztlich Bahn bricht – vom Krieg in der Ostukraine über die zügellose Wut auf Chemnitz' Straßen im Spätsommer 2018 bis zu Internettrollen und Fake News. Aber auch filmische Analogien tun sich auf. Wenn Fedja mit einer Axt durch eine Tür bricht, hinter der Hanne-Liebe mit einem Küchenmesser steht, nimmt Dreyer beinahe eine Szene aus Stanley Kubricks The Shining (1980) vorweg. Statt wie Jack Nicholson als Jack Torrance an der Welt verrückt zu werden, gönnt Dreyer Hanne-Liebe und Sascha ein Happy-End.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-gezeichneten-1922