Jibril (2018)

Eine Liebe zwischen Mauern

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Am Anfang ist da nicht sehr viel mehr als eine Begegnung, ausgetauschte Blicke, ein Lächeln vielleicht und die Ahnung, dass diese beiden Menschen sich voneinander angezogen fühlen. Ein Aufeinandertreffen, wie man es häufig erlebt, ohne dass daraus jemals etwas folgen würde. Man sieht sich für einen Moment, spürt ein Prickeln im Bauch und das war es dann.

Jahre später sehen sich die beiden wieder. Maryam (Susana Abdulmajid) inzwischen geschieden und alleinerziehende Mutter zweier Töchter, deren größtes Vergnügen es ist, arabische Soap Operas zu schauen Und Jibril (Malik Adan), der Mann, den sie damals auf einer Hochzeit traf, sitzt im Knast. Als sie für eine Bekannte ein Päckchen im Gefängnis abliefern muss, sitzt sie ihm plötzlich gegenüber und erkennt ihn ebenso wie er sie. Und mit überwältigender Wucht kehrt das Verlangen, das Begehren, die Sehnsucht zurück, dass sich bei ihrer ersten Begegnung allenfalls andeutete.

Und so häufen sich die Besuche Maryams im Gefängnis, obwohl ihr Umfeld skeptisch bis ablehnend auf diese neue Liebe reagiert. Sie sei doch gerade erst einer Beziehung mit einem Mann entkommen, der ihr nicht gutgetan habe, heißt es an einer Stelle und reflektiert damit unweigerlich die unausgesprochenen Bedenken der Zuschauer*innen, die mangels Informationen über die Background-Story des Inhaftierten schnell Gefahr wittern.  Und überhaupt: wie soll der Mann aus dem Knast heraus für sie und die Kinder sorgen? Maryam aber lässt sich nicht beirren, weder von den Ermahnungen ihres Umfeldes noch von den Erwartungen des Publikums, von denen weder sie noch ihre Schöpferin Henrika Kull etwas wissen (wollen).

Geschickt hält Henrika Kull in ihrer ebenso klugen wie authentisch wirkenden Liebesgeschichte die Balance zwischen nachvollziehbarer Romantik und präzisem Sozialrealismus, zwischen romantischen, beinahe lyrisch wirkenden Passagen und Schilderungen der rauen Lebenswirklichkeit. Vieles deutet Henrika Kull in ihrem Film nur an, erklärt wenig bis nichts über das Vorleben dieses Liebespaares, von dem das Publikum weder erfährt, woran Maryams Ehe scheiterte, noch was der Grund für Jibrils Knastaufenthalt ist. Henrika Kull schafft damit Offenheit und Räume für Spekulationen, die allerdings niemals im Vordergrund stehen, weil sich dieses zart angedeutete, aber niemals ausbuchstabierte Figurensetting so authentisch anfühlt, spröde und zugleich unendlich zart.

Überhaupt ist die Nähe des Films und vor allem der ausgezeichneten Kamera von Carolina Steinbrecher zu den Figuren das hervorstechendste Merkmal von Jibril. Statt klischeebeladener Bilder vom Gefängnis, wie man sie immer wieder gesehen hat, lösen die Bilder Jibril und Maryam aus der sie umgebenden Architektur heraus und geben ihnen auf diese Weise Räume der Nähe und Intimität und damit innere Welten, wo die Außenwelt eng und feindlich geworden ist.

Doch Henrika Kull belässt es nicht dabei, allein die Beziehung mit all ihren Schwierigkeiten zu schildern, sie verhandelt zudem dezent eingeflochten Fragen, die nicht nur Maryams und Jibrils spezifische Situation betreffen, sondern die bei vielen Beziehungen von Bedeutung sind – etwa die nach der Balance zwischen Sehnsucht und Verlangen, nach Nähe in Zeiten, in denen man sich nur selten sehen kann, aber auch nach Gleichberechtigung in einer Beziehung, die von strikten, kulturell festgeschriebenen  Rollenbildern geprägt ist – und dabei ist es nicht von Belang, dass Maryam und Jibril migrantische Wurzeln haben.

Am Ende sieht sich das Publikum mit vielen Fragen konfrontiert, die nicht beantwortet werden – doch es ist kein Unwillen oder Verharren im Ungefähren, sondern ein Anerkennen der Ausschnitthaftigkeit des Lebens selbst und das Vertrauen in die Zuschauer*innen, diese Bruchstückhaftigkeit auszuhalten und anzuerkennen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/jibril-2018