Wolfsnächte (2018)

Showdown in der Eiswüste

Eine Filmkritik von Thomas Groh

In der Eiswüste der alaskischen Schneenächte hört dich keiner schreien. Dorthin jedenfalls verschlägt es den Nature Writer Russell Core (Jeffrey Wright), nachdem ihn per Brief ein Hilferuf von Medora Sloane (Riley Keough) ereilt hat: Wölfe haben begonnen, die Kinder des fernab gelegenen Dorfes Keelut zu reißen, darunter ihren eigenen Sohn. Ihr Mann Vernon (Alexander Skarsgård) ist im Krieg, in der Sandwüste des Nahen Ostens. Vor Jahren habe er, Core, doch ein Buch über die Jagd auf einen Wolf geschrieben. Ob er nicht nun auch diesen Wolf erlegen und vom Sohn wenigstens die Knochen bergen könne, damit sie etwas hat, was sie ihrem Mann, sobald er nach Hause kommt, vorlegen und mit ihm gemeinsam begraben könne?

„Sie sind alt” ist dann mit das Erste, was Medora über die Lippen kommt, als der 60-Jährige tatsächlich vor ihrer Tür aufschlägt. Damit legt Jeremy Saulniers Verfilmung von William Geraldis Vorlage Wolfsnächte (Drehbuch: Macon Blair) zumindest eine kleine Spur zum Verständnis dessen, warum sich dieser alte Mann überhaupt noch mal in die Wildnis aufmacht: In Geraldis Roman – ein schönes Beispiel für den grimmig-schlanken No-Nonsense-Stil der US-Genreliteratur, in der vordergründig die Dielen knarren, unter denen sich dann tiefe Abgründe auftun – wird rasch offensichtlich, dass Core in einer depressiven Lebenskrise steckt, an seinem Dahinwelken krankt und vielleicht ja wirklich von einem halb eingestandenen Todestrieb an der Nase herumgeführt wird.

Im Film rückt dieser Aspekt allerdings weniger nach vorne – wie überhaupt vieles zum Zweck der dramaturgischen Raffung vom literarischen Korpus abgehobelt wurde: Ein atmosphärisch ziemlich großartiger, sehr verstörender Dialog mit einer alten hexenartig gezeichneten Dorfbewohnerin etwa, die Core geradezu ingrimmig auf den Pfuhl einschwört, auf den er sich mit diesem Abenteuer eingelassen hat. Im Buch eine mehrseitige Etappe, nach der Keelut endgültig als zivilisationsfernes, extraterritoriales Gelände erscheint, in dem auch ein Schlund in die Hölle nicht mehr erstaunen würde – im Film hingegen ein schneller Wechsel knapper Zeilen. Ebenso fehlen die im Buch flankierenden Exkurse in die Bereiche Natur, Mystik und Kultur – etwa die Frage, inwiefern wir das, was uns in der Natur entgegentritt, tatsächlich erkennen oder darin nur einen Widerhall aus dem Echoraum unserer eigenen Mythengeschichte wahrnehmen.

Das ist einerseits etwas schade, andererseits lässt Saulnier in dieser Verschlankung des Stoffs andere Tugenden zur Geltung kommen: Was Geraldi über Dialog und die Darstellung innerer Welten transportiert, fasst Saulnier im genius loci, in der Atmosphäre der kargen Schneelandschaften und improvisierten Hütten. Kleiner Wermutstropfen: Die epischen Panoramen des Films (Kamera: Magnus Nordenhof Jønck) kämen im klimatisiert kalten Kinosaal wahrscheinlich nochmal deutlich eindrucksvoller rüber als im behaglichen Wohnzimmer-Kino der kleinen Bildschirme, für das Netflix steht.

Einen existenzialistischen Wolfs-Survivalthriller wie Joe Carnahans grandios konsequenten The Grey sollte man allerdings nicht erwarten: Sehr rasch wird klar, dass auch und gerade in Keelut immer noch der Mensch des Menschen Wolf ist: Spätestens wenn Medora das Weite sucht und Vernon, verwundet und traumatisiert, aber zum skrupellosen Morden ausgebildet, aus dem Krieg zurückkehrt und mit dem Tod seines Sohnes konfrontiert wird, dämmert es Core, dass er sich in ungute Psychodynamiken verstrickt hat. In einem bizarren Massaker und einem Showdown vor archaischer Naturkulisse schnellen die Zahl der Toten alsbald in die Höhe.

Wolfsnächte tastet sich in Regionen menschlicher Verwahrlosung vor, die für den Verstand nur schwer zu greifen sind. Einfache Antworten liefern weder der Roman noch dessen Verfilmung – wer anderes erwartet, bleibt allein im alaskischen Eis zurück. Dass es (auch) um Reizthemen wie „toxische Maskulinität” geht, lässt sich immerhin erahnen. Doch weder Geraldi noch Saulnier analysieren das Thema – sie erkunden es vielmehr konfrontativ. Saulnier setzt sich und sein Publikum dem aus und bedient damit eine Filmkonzeption, die das Kino (im allerweitesten Sinn) weniger als moralische Anstalt, sondern als Erfahrungsraum versteht. Wo das klassische Kino auf Entwicklung der Figuren und Katharsis setzt, stellt Wolfsnächte eher den Prozess einer Transformation dar – und stellt damit, auch wegen des rätselhaften Schlusses, vielleicht eine Art männliches Pendant zu einer anderen, ebenfalls mit Naturmystik flirtenden Netflix-Produktion dar: Alex Garlands Auslöschung (Annihilation).

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/wolfsnaechte-2018