Glaubenberg (2018)

Mythische Begierde

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Glaubenberg würde wahrscheinlich auch als Stummfilm funktionieren. Alles, was man verstehen muss, drücken die Figuren durch ihre Blicke aus: sie taxieren einander und schätzen sich gegenseitig ab, manchmal geringschätzen sie sich auch ganz eindeutig. Oft steht Eifersucht in ihren Augen, zumeist aber die pure Begierde. Das ist umso aufregender, weil es eine verbotene Begierde ist. Basierend auf Ovids Mythos von Byblis und Kaunos erzählt Thomas Imbach von der 16-jährigen Lea (Zsofia Körös), die sich stark zu ihrem älteren Bruder Noah (Francis Meier) hingezogen fühlt.

Glaubenberg versetzt diese Legende, so sagt es der Regisseur selbst, in die Jetztzeit, strickt daraus die Geschichte einer Teenagerin von heute. Dennoch schleicht sich immerzu das Mythische in den Film, manchmal auch die Ahnung einer Zeit, die so weit in der Vergangenheit liegt, dass sie kaum glaubhaft existiert haben kann. Das gilt für Leas und Noahs Kindheit, die gelegentlich in sehr kurzen Flashbacks als verlorenes Paradies aufscheint. Es gilt aber vor allem für die Umgebung, in der die beiden aufgewachsen sind. Imbach, der für seinen Film selbst die Kamera geführt hat, versteht es, die Alpen aus einer ganz besonderen Perspektive heraus abzubilden: Immer wieder scheint die Kamera den Blick vom Rücksitz eines fahrenden Autos zu emulieren, wohin man sich als Teenager selbst mit lauter Musik auf den Kopfhörern zurückzog. Oben auf dem Glaubenbergpass haben Lea und Noah einen Ammoniten gefunden, stumme Erinnerung an die Zeit, als ein urzeitliches Meer hier alle Oberflächen bedeckte.

Nicht nur der Ablauf der Zeit ist in Glaubenberg von Logik und Naturgesetzen befreit. Auch Leas Geist schwankt beständig zwischen variablen Stadien von Traum und Bewusstsein. Imbach bleibt stets ganz nah bei seiner Hauptfigur. Die Kamera liebt sie, zeigt ihr Gesicht immerzu in weichen Groß- und Detailaufnahmen und wenn sie später mit der großen, im Haar zurückgeschobenen Sonnenbrille durch die türkische Einöde stapft, verströmt sie die Aura eines großen Hollywoodstars. Ein bisschen wie Ingrid Bergman in Stromboli oder Reise in Italien, eine Frau, deren Strahlen durch die sie umgebende Kargheit noch intensiver wird. Vor allem aber eine Frau, deren Beharren auf ihrer Unabhängigkeit von der Gesellschaft als Gefahr betrachtet wird. Lea ist begehrt, das weiß sie. In einer Konfrontation mit ihrem ebenfalls versuchten, doch dabei entsetzlich verschreckten Bruder sagt sie einmal: „Dann finde ich eben einen neuen Freund“, als wäre das das Einfachste auf der Welt. Dass sie den von außen auf sie gerichteten Begierden jedoch nicht nachgibt, unentwegt nur ihrem eigenen Weg folgt, das lässt sie bedrohlich erscheinen. Ihre eigene Mutter (Bettina Stucky) betrachtet sie mit einer eigentümlichen Mischung aus Bewunderung und Angst.

In Glaubenberg geht es letztlich also weniger um das gesellschaftliche Tabu der Geschwisterliebe als vielmehr um das Tabu einer jungen Frau, die so genau weiß, was sie will, dass sie Außenstehenden nur als verrückt erscheinen kann. Kein sozialrealistisches Drama, eher ein Märchen in Schwiizerdütsch, in dem alltäglich erscheinende Situationen plötzlich abgleiten in Sphären, in denen Lea ihren Bruder ganz für sich hat. In denen sie ihre Begierden ausleben oder wenigstens darüber sprechen kann. Ein bemerkenswert angstfreier Film, ein Höhepunkt in Locarno 2018.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/glaubenberg-2018