Wintermärchen (2018)

Saufen, ficken, morden

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Wenn es um den NSU geht, ist die meistgestellte Frage wahrscheinlich nicht das übliche „Wie konnte das passieren?“ Vielmehr scheint die Leute zu interessieren: Wie genau sah das aus? Zwei Männer und eine Frau im Untergrund und doch permanent am Tageslicht, gemeinsam in einer seltsam undurchsichtigen Beziehungskonstellation leben, regelmäßig morden und rauben, alles direkt unter der Nase der Öffentlichkeit. Die einzige Überlebende beharrlich schweigt. Ein vergifteter Mythos hat sich um die Terrorzelle gebildet – genau diesen macht Jan Bonny in "Wintermärchen" zum Thema.

Dabei bildet der Film nur eine fiktionalisierte Version, eine mögliche Variante ab. Bonny interessiert sich nicht für eine minutiöse, wirklichkeitsgetreue Nacherzählung der NSU-Morde, auch um die optische Ähnlichkeit der Darsteller mit den realen NSU-Mitgliedern schert er sich wenig. Becky (Ricarda Seifried) und Tommi (Thomas Schubert) scheinen ein auf den ersten Blick gewöhnliches Leben zu führen: arbeitslos in einer spärlich eingerichteten Wohnung irgendwo in einem gesichtslosen Viertel. Nur, dass sie regelmäßig auf einer Lichtung schießen üben und selbstgebastelte Bomben hochgehen lassen. Als Maik (Jean-Luc Bubert) zu dieser fatalen Konstellation hinzustößt, beginnt das Trio, die ersten Morde an Menschen zu begehen, die in ihren Augen nicht nach Deutschland gehören.

So viel sei gleich klargestellt: es ist eine Tortur, Wintermärchen zu schauen. Wie wollte man es auch verantworten, drei menschenverachtende Terroristen als vielschichtige, gar sympathische Figuren zu zeichnen? Sie sind das glatte Gegenteil, zur Kommunikation unfähig, in Minutenabständen zwischen Selbstmitleid, übersteigertem Selbstbewusstsein und körperlichen sowie verbalen Aggressionen schwankend. Jan Bonny erzählt von dem NSU in erster Linie als Geschichte spärlich unterdrückter Urtriebe, als in jeder Hinsicht schmutzige Fantasie – nicht mithilfe ohnehin nur spekulativer Psychologisierung, sondern mithilfe erbarmungsloser Vehemenz. Nein, Impertinenz. In Wintermärchen wird unaufhörlich geschrien und gekreischt, aufeinander eingedroschen, verhöhnt, beleidigt, gehasst – und es wird immerzu gefickt. Das ist schon das richtige Wort, es braucht diese Drastik. Denn so sehr die Figuren sich irgendwo tief drinnen danach sehnen – sie geben sich damit keine Liebe. Die Kamera hält das in unterbelichteten, wackeligen Bildern fest, wie in Pornos, die gezielt auf den Eindruck von Amateuraufnahmen hin inszeniert sind.

Auf diese Weise gelingt es Jan Bonny tatsächlich, einen zumindest vagen Eindruck von einem Leben abzubilden, das sich abgehängt und perspektivlos anfühlen muss. In dem Ficken und Saufen die einzigen Freuden sind, derer man habhaft werden kann; Geilheit und Eifersucht die einzigen noch nicht abgeschnürten Emotionen. In der das drängende Bedürfnis, irgendetwas müsse sich ändern, schnell extreme Dimensionen annehmen kann.

Die am nachhaltigsten beklemmenden Momente entwickelt Wintermärchen jedoch, wenn er sich für kurze Momente aus der unangenehmen Nähe zu seinen Protagonisten löst und den Blick weitet auf die Gesellschaft, in der sich Becky, Tommi und Maik bewegen. Wenn sie einen ihrer Morde auf einer Karnevalsparty feiern, dann schallt bei Liedern wie Superjeilezick und launigen Textzeilen wie „jetzt geht’s los / wir sind nicht mehr aufzuhalten“ immer auch ein bisschen Angriffskrieg mit. Wenn Leute in Lokalen betreten zu Boden schauen, sobald sie nicht mehrheitsfähige Reden von ihren Sitznachbarn aufschnappen, dann entsteht eine Sensibilität für etwas durchaus typisch deutsches, auf das man so ganz und gar nicht stolz sein kann. Selten hat ein Abspannlied die Essenz eines Films so treffend auf den Punkt gebracht: ein geflüstertes Cover des Die-Ärzte-Songs Schrei nach Liebe.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/wintermaerchen-2018