Sandmädchen (2017)

In ihrem Kopf ein Universum

Eine Filmkritik von Falk Straub

Dass es auf die inneren Werte ankomme, lernen wir schon im Kindesalter und lassen uns doch zeitlebens allzu oft von Äußerlichkeiten leiten. Regisseur Mark Michel hat hinter eine nur augenscheinlich eindeutige Fassade geblickt und ein unglaublich vielfältiges Universum entdeckt: die Gedanken- und Gefühlswelt der jungen Studentin und Autorin Veronika Raila, die ihr Leben nicht ohne fremde Hilfe meistern kann und dies doch meisterlich tut.

Zu Beginn ein Paradoxon: „Ich kann nicht sprechen, nicht laufen und nicht singen“, sagt eine Frauenstimme aus dem Off. Ganz behutsam, zu Ines Thomsens fein kadrierten Einstellungen der Wanderdünen im polnischen Łeba, zu einer eingeblendeten Korrespondenz zwischen dem Regisseur und seiner Protagonistin, zur Sandmalerei der Künstlerin Anne Loeper löst sich die anfängliche Verwirrung, fügen sich die Einzelteile zu einem Ganzen. Die vorgetragenen Texte gehören Veronika Raila, die vortragende Stimme ist nur geliehen. Raila kommuniziert mittels einer Computertastatur mit ihrer Umwelt. Und weil sie ihre Körpergrenzen nicht spüren kann, bedarf sie dabei eines Widerstands. Meist steht ihre Mutter neben dem Bett und stützt die Hand der Tochter, die flink über die Buchstaben huscht.

Dass es überhaupt so weit gekommen ist, liegt am Glauben der Eltern ans eigene Kind. Die Ärzte attestierten Veronika einen Intelligenzquotienten von Nullkommanull, ließen sich womöglich vom äußeren Eindruck täuschen, blickten nicht tiefer, konnten nicht erkennen, dass das kleine Mädchen nur noch keinen Weg gefunden hatte, sein Innerstes nach außen zu transportieren. „Abgetaucht in einem unendlich großen Raum“, beschreibt Raila ihre damalige Situation. Es sei wie mit dem Gesang von Walen gewesen, die tief im Meer einsam schwömmen. In Gesprächen mit Veronikas Mutter, in kleinen Anekdoten und alten Familienvideos zeichnet Sandmädchen Veronikas Entwicklungsprozess nach, der ihr nicht nur den Besuch eines Gymnasiums, sondern auch den einer Universität ermöglichte. Buchstaben, unverrückbar und zugleich unendlich kombinierbar, bildeten früh eine Konstante in ihrem Leben. In Augsburg studiert sie Neuere Deutsche Literatur und katholische Theologie. In ihrer Freizeit verfasst sie Prosa und Lyrik.

Wie es ist, geistig voll da zu sein, aber nur über Umwege mit seiner Umwelt kommunizieren zu können, wie sich das anfühlt, seine Körpergrenzen nicht zu kennen und hypersensibel auf Lärm und Temperatur zu reagieren, dafür bedient sich der Film allerlei (nautischer) Metaphern, die Veronika Raila selbst gewählt hat. Gemeinsam mit Mark Michel will sie uns ihre „Inseln der Wahrnehmung“ vermitteln. Sand beschreibt ihr Körpergefühl am besten. Wie bei den Dünen im Wind, wie bei Anne Loepers vergänglicher Kunst auf dem Lichttisch ist auch bei Veronika Raila nur eine Kleinigkeit notwendig, um ihr Innerstes auseinanderbröseln zu lassen.

Schon einmal hat Mark Michel mit Veronika Raila zusammengearbeitet. 2011 entstand der 7-minütige Kurzdokumentarfilm Veronika. Für den ebenso schlicht wie schön betitelten Sandmädchen ging die Zusammenarbeit nun noch ein paar Schritte weiter. Railas Texte und Gedanken, ihre Ideen zu Form und Inhalt sind ebenso wichtige Bestandteile wie ihre beeindruckende Präsenz. Dabei lässt der essayistische Ansatz ganz bewusst Leerstellen. Die eingangs aufgeworfene Frage nach der Liebe etwa bleibt unbeantwortet. Das ist bei dieser berührenden filmischen Reise aber auch nicht ausschlaggebend. Sandmädchen ist ein poetisches Porträt und ein unausgesprochenes Plädoyer, unvoreingenommen unter die Oberfläche zu blicken, um das Potenzial eines jeden freizulegen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/sandmaedchen-2017