Der Eid

Ein Vater sieht rot

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Nach seinen Ausflügen nach Hollywood mit 2 Guns und Everest ist Baltasar Kormákur mit Der Eid (The Oath) wieder ins heimatliche Island zurückgekehrt und hat nicht nur wie üblich die Regie und das Drehbuch übernommen, sondern erstmals auch die Hauptrolle. Er spielt den Herzchirurgen Finnur, der mit einer attraktiven jungen Frau (Margret Bjarnadottir) verheiratet ist und mit ihr eine kleine Tochter hat. Dann stirbt sein Vater – und seine ältere Tochter Anna (Hera Hilmar, Life in a Fish Bowl) aus einer früheren Ehe taucht viel zu spät bei der Beerdigung auf, weil sie verschlafen habe. Aber Anna feiert nicht einfach nur gerne und lang, sondern ist drogensüchtig. Zudem ist sie sehr verliebt in Ottar (Gísli Örn Gardarsson), der selbst keine Drogen nimmt, aber welche verkauft – und nach Überzeugung Finnurs auch dafür sorgt, dass Anna auf Drogen bleibt.
Kormákur nimmt sich viel Zeit, diese Familienkonstellation und den ruhigen Alltag zu etablieren sowie Finnurs Passivität und Kontrollneigung einerseits und seine Risikobereitschaft im Beruf andererseits herauszuarbeiten. Dadurch werden Finnurs folgenden Handlungen nachvollziehbar: Er ist ein Vater, der seine Tochter – ganz im Sinne von Liam Neeson in Taken – unbedingt retten will. Dabei wird wird Der Eid – wie nahezu alle Filme von Kormákur – von der Handlung vorangetrieben, jeder Schritt, den Finnur unternimmt, verstärkt die Gefahr und Aussichtslosigkeit der Situation, jede Handlung hat Konsequenzen, die nicht vorherzusehen waren. Dadurch verweigert sich der Film allzu einfachen Lösungen, zudem gibt es immer wieder Momente der Ruhe, durch die die Charaktere weiterentwickelt werden. Denn im Gegensatz zu Finnurs Wahrnehmung scheint Ottar nicht einfach nur der böse Dealer zu sein, der die arme Tochter mit Drogen versorgt, sondern wenigstens seine Zuneigung zu Anna ist echt, daher könnten auch seine Schwierigkeiten mit noch böseren Drogenverkäufern real sein. Gleichermaßen sind Finnurs Handlungen nicht nur Ausdruck seiner Sorge um seine Tochter, sondern werden zugleich von Hybris und Kontrollwunsch angetrieben. Anna ist die einzige Frau in seinem Leben, die ihn nicht bedingungslos anhimmelt, sondern ihn wegstößt und hinterfragt. Darüber hinaus zeigt auch Finnur in seinem Verhalten Anzeichen von Sucht – nicht nur nach Macht, sondern auch nach Höchstleistung. Immer wieder fährt er mit seinem Fahrrad durch die isländische Landschaft, erst im Rekorde aufzustellen, später um gleichermaßen Chirurg und Verbrecher zu sein, und damit spiegelt sich in Annas Verhalten auch ein Zug von ihm.

Sicherlich hat Der Eid Längen und kleinere Widersprüche, insgesamt aber ist der Film näher an The Deep als an Everest. Kormákur hat sich hier dem sehr amerikanischen Genre des Vigilanten-Films angenommen, es nach Island transponiert – und es dadurch sehr in der Wirklichkeit angesiedelt. Dieser Rächer muss nebenbei noch ganz normal im Krankenhaus arbeiten und sich mit dem Misstrauen von Polizei, Ehefrau und Töchtern auseinandersetzen. Deshalb verhandelt Kormákur fast nebenbei noch die Fragen, wie sich eine blutige Racheaktion auf einen Chirurgen auswirkt – und ob seine Familie etwas von seinem Doppelleben ahnt. Abgerundet mit einem folgerichtigen, kleinen, gemeinen Ende zeigt Der Eid daher, dass ein Schuss keinen Konflikt löst, ganz im Gegenteil: Mit ihm fängt der Ärger erst richtig an.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-eid