Postcards from the 48% (2018)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Die EU ist unter vielfachem Beschuss, seit Rechtspopulisten und Nationalisten die Gemeinschaft als Buhmann und Sündenbock für nahezu alle Fehlentwicklungen ausgemacht haben. Das Brexit-Referendum, das vor fast genau 2 Jahren am 23. Juni 2016 stattfand, hat diesen verhängnisvollen Trend noch weiter verstärkt: 51,9 % der Wähler stimmen damals nach einer massiven Schmutzkampagne für den Austritt aus der EU, 48,1 % votierten hingegen mit „Remain“. Seitdem ist zwar viel passiert, doch die Verhandlungen über die Modalitäten des Austritts geraten immer wieder ins Stocken. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass die vollmundigen Versprechungen der Austrittsbefürworter zum Großteil so nicht eintreten werden – im Gegenteil.

Und so formiert sich unter dem Eindruck des alltäglichen Regierungschaos in Großbritannien der Widerstand gegen den nahenden Austritt, längst dürfte der Anteil der „Remainer“ im Vereinigten Königreich ungleich höher liegen als vor 2 Jahren. David Nicholas Wilkinson verleiht dieser Minderheit, die in Wirklichkeit längst eine Mehrheit sein dürfte, mit seinem Film Postcards from the 48 % eine machtvolle Stimme und zeigt, wie sehr das Herz vieler Briten immer noch für die angeblich so verhasste Europäische Union schlägt.

In seinem via Crowdfunding und mit viel privatem Engagement realisierten Film macht sich Wilkinson, der früher vor allem als Schauspieler tätig war, sich nun aber dem Dokumentarfilm zugewandt hat, auf den Weg in die verschiedenen Gegenden des Königreichs. Er besucht das Haus der Schauspielerin Miriam Margolyes am südlichsten Zipfel der Insel, von dem aus man an klaren Tagen bis nach Frankreich hinüberschauen kann, geht zu einem Protestmarsch der „Remainer“ und spricht immer wieder mit Menschen über ihre Haltungen, Erinnerungen, Ängste und Hoffnungen bezüglich der Zukunft ihres Landes. Auf diese Weise entsteht ein ganz anderes Bild Großbritanniens, als man es durch die Nachrichten im Sinne haben dürfte – ein Land voller liebenswerter, progressiver, liberaler und toleranter Menschen, die aus tiefster Überzeugung Europäer sind. Und besonders eindrücklich wird das an jenen Stellen innerhalb der Gespräche, wenn die Geschichte der Vater- und Großvater-Generation auf den Tisch kommt, die in zwei verheerenden Weltkriegen gegeneinander kämpften und deren Nachfahren nun viel mehr verbindet als trennt. 

Doch Wilkinson belässt es nicht allein bei der reinen Emotion, sondern verdeutlich mit Experten auch, dass der Brexit auch wirtschaftlich eine mehr als nur fragwürdige Unternehmung ist, die die Ökonomie des Landes nicht stärkt, sondern vielmehr entscheidend schwächt – eine Erkenntnis, die mittlerweile auch viele Briten dämmert und die auch die Regierung dazu bringt, die Austrittsverhandlungen derart chaotisch zu gestalten. Wunsch und Wirklichkeit klaffen immer mehr auseinander.

Überhaupt ist Postcards from the 48 % ein beeindruckendes Dokument unserer politisch schwierigen Gegenwart geworden, doch wie seine Protagonist*innen fokussiert auch der Film auf das Verbindende und das Positive und ist damit ein Gegengift gegen die verheerende Saat aller Nationalisten und Populisten, die den Menschen weismachen wollen, nationale Alleingänge seien in einer globalisierten und vernetzen Welt das Mittel der Wahl.

Egal, wie der leidenschaftliche Kampf der Remainer gegen das anscheinend Unvermeidbare auch enden wird: Dieser Film markiert einen wichtigen Punkt – vielleicht den wichtigsten – in der Geschichte des Königreichs seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Und er macht Mut, sich gegen die Verheerungen von Nationalismus, Populismus und Egoismus zu stellen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/postcards-from-the-48-2018