Be Natural - Sei du selbst - Die Filmpionierin Alice Guy-Blaché (2019)

Die vergessene Filmpionierin

Eine Filmkritik von Maria Wiesner

Kennen Sie Alice Guy-Blaché? Mit dieser Frage eröffnet Pamela B. Green ihren Dokumentarfilm "Be Natural: The Untold Story of Alice Guy-Blaché". Sie stellt diese Frage FilmemacherInnen, RegisseurInnen, FilmhistorikerInnen und SchauspielerInnen. Wenige haben je von ihr gehört. So dürfte es wohl auch überwiegend dem Publikum gehen. Denn Alice Guy-Blachés Name ist über die Jahre aus den Geschichtsbüchern verschwunden. Dabei war sie die erste weibliche Regisseurin und Produzentin. Ihren ersten Film drehte sie 1896. Mehr als 1000 weitere sollten folgen. Wer war diese Frau und warum ist ihr Name heute kaum mehr bekannt – ganz im Gegensatz zum Brüdern Lumières oder Georges Méliès?

Diesen zwei Fragen geht die Regisseurin Pamela B. Green in ihrem Filmdebüt nach. Green ist schon lange im Filmgeschäft als Produzentin von Titelsequenzen und visuellen Effekten. Ihre Arbeit konnte man in mehr als 150 Filmen sehen, darunter Jason Bourne, Coup d’Etat oder Geostorm. Ihr Talent kommt Be Natural zu Gute. In den ersten Minuten vollführt sie eine überbordend animierte Reise zurück durch die Zeit. Sie beginnt dafür in Hollywood, lässt Straßenzüge mit großen Studios und Verweisen auf Blockbuster entstehen, die klappern dann langsam zurück, erinnern an den Beginn des Films im 20. Jahrhundert. Anschließend geht die Reise auf einer Landkarte zunächst nach New Jersey, um bis ins alte Europa zurückzuspringen, nach Paris, wo die Brüder Lumières ihren ersten Film zeigten und eine Sekretärin des Kameraherstellers Gaumont so beeindruckt von den Möglichkeiten dieses neuen Mediums war, dass sie ihren Chef darum bat, sich darin versuchen zu dürfen. Diese Frau war Alice Guy-Blaché und sie sollte schon bald das Medium Film weiterentwickeln. 

Guy-Blaché leistete Herausragendes, wie ein Filmhistoriker es heute einschätzt: „Die ersten Aufnahmen waren von rollenden Zügen oder Wellen, die gegen eine Bucht schlagen. Langweiliges Zeug, das wollte doch keiner sehen. Wenn es danach gegangen wäre, wäre das Medium Film bereits kurz nach der Geburt wieder eingegangen. Alice Guy-Blanché aber erkannte sein Potential und was man damit wirklich alles anstellen konnte.“ Dieses Potential war: Geschichten zu erzählen. 

Ihr erster Stummfilm, der ein großes Publikum für Filme begeistern sollte, war The Cabbage Fairy. Darin richtet eine Frau in flatterndem Kostüm unter beschwörenden Bewegungen einen Zauberstab auf Kohlköpfe und zieht kurz darauf Babys aus ihnen hervor. Der Film dauert nur ein paar Minuten, aber die genügen, um den Humor der Regisseurin zu erkennen. Sie schrieb ihre eigenen Drehbücher, produzierte ihre Filme selbst und leitete als Regisseurin ganzes Teams an. Manchmal legte sie auch beim Schnitt selbst Hand an. 

Als sie nach Amerika ging, war man bei Gaumont, das sich mittlerweile auf den Vertrieb von Filmen und Filmkameras spezialisiert hatte, schwer enttäuscht, seine beste Regisseurin zu verlieren. Mit dem Mann zog Guy-Blaché nach New Jersey und wurde Mutter. Doch zuhause herumsitzen kam für diese Frau nicht in Frage, die es immer gewohnt gewesen war, ihre Familie versorgen zu müssen. Also gründete sie in Ford Lee in New Jersey „Solax“, ihr eigenes Filmstudio.

Pamela B. Green suchte bei ihrer Recherche nach Enkeln und Nachfahren, durchwühlte Kisten auf Speichern und in Garagen und wurde nicht selten noch fündig: Alte Fotos, Souvenirs, Filmaufnahmen förderte sie zutage. Viele verwendete sie aufwendig animiert für ihren Dokumentarfilm. Überhaupt ist die Recherchearbeit für Be Natural herausragend. Green schrieb Archive auf der gesamten Welt an, um noch existierende Filmrollen von Guy-Blaché aufzuspüren. Sie grub Interview-Aufnahmen aus, die vor 50 Jahren mit der alten Dame geführt wurden. Sie fand Briefe, Adress- und Tagebücher. Die Recherche dauerte 8 Jahre. Lang genug, um französisch zu lernen, scherzt die Regisseurin bei ihrer Filmpremiere in Cannes. Das von ihr gesammelte Material und die zahlreichen Interviews, die sie führte, setzen wie in einem Mosaik verschiedenste Aspekte der Geschichte dieser Filmpionierin zu einem großen Porträt zusammen. 

Green arbeitet zudem heraus, wie Guy-Blaché so lange vergessen werden konnte. Ein paar Jahre nachdem ihr Studio gut lief, begann ihr Ehemann – eifersüchtig auf die Karriere seiner Frau – selbst Regie zu führen und seiner Frau Schauspielerinnen und andere Teammitglieder abzuwerben. Später verschwindet er, nachdem er viel gemeinsames Geld an der Börse verloren hat, mit einer Schauspielerin nach Los Angeles, wo er seine Karriere fortsetzt. Die ersten Werke zum Überblick der Filmgeschichte, mehrere Jahrzehnte später von Männern geschrieben, schreiben die Gründung und den Erfolg des Solax-Studios dann auch automatisch dem Ehemann zu. Wie das geschehen konnte? Einer der überraschendsten Punkte, die Be Natural hervorhebt, ist, wie viele Frauen in den ersten Jahren im Filmgeschäft gearbeitet haben. Sie waren hinter der Kamera, beim Schnitt, schrieben die Drehbücher. Solange es ums Ausprobieren eines neuen Mediums ging, konnten sie kreativ und gleichberechtigt arbeiten. Erst als das Medium das Interesse eines größeren Publikums erweckte und Investoren große Profite witterten, kippten die Verhältnisse. Mit dem Einzug des großen Kapitals verschwand die Gleichberechtigung. Die Frauen besetzten keine wichtigen Positionen mehr beim Filmemachen und schon wenige Jahre später konnten sich die Schreiber von Geschichtsbüchern nicht einmal mehr vorstellen, dass es möglich gewesen wäre, dass eine Frau unter den ersten war, die ein Filmstudio führten. Also schrieben sie wahllos viele ihrer Filme Alice Guy-Blachés männlichen Assistenten zu.

Guy-Blaché erzählte in einem letzten langen Interview kurz vor ihrem Tod 1968 einem französischen Filmhistoriker, wie lange sie darum gekämpft hatte, dass man diese Aussagen änderte. Sie versuchte lange vergeblich, auch ihren Namen in den Geschichtsbüchern zu verewigen, wo er rechtmäßig hingehörte. Erst spät – längst geschieden und zurückgekehrt nach Frankreich –, gelang es ihr, in ihrem Heimatland ein wenig Anerkennung für ihr Schaffen zu bekommen. Doch dieser kleine Ruhm überdauerte die Jahrzehnte nicht, wie die vielen fragenden Gesichter am Anfang des Dokumentarfilms beweisen.

Wie wichtig die Frau war, und wie wichtig es nun ist, endlich ihre Geschichte zu erzählen, zeigt sich nicht zuletzt in der langen Liste prominenter Produzenten, die Green für das Projekt begeistern konnte. Darunter Robert Redford, Hugh Hefner und Jodie Foster, die auch einen Teil der Voice-Over übernahm. Be Natural erzählt die Geschichte dieser Filmpionierin sehr detailliert und gibt der Frau den Platz in der Geschichte des Films zurück, den sie verdient.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/be-natural-sei-du-selbst-die-filmpionierin-alice-guy-blache-2019