Glücklich wie Lazzaro (2018)

Wunder geschehen

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Man muss sich Lazzaro (Adriano Tardiolo) als einen glücklichen Menschen vorstellen. Der junge Mann, der immer mit einem kindlich-staunenden Blick durch die Welt zu gehen scheint, lebt gemeinsam mit anderen Männern, Frauen und Kindern auf dem Landgut L’Inviolata (zu deutsch: „unangetastet) irgendwo im Süden Italiens in einer kargen, gebirgigen Landschaft.

Hier gehen die Menschen ihrer täglichen Arbeit nach, die darin besteht, Tabak zu ernten. Dieser und die anderen Produkte, die sie anbauen, werden regelmäßig von einem schmierigen Verwalter abgeholt. Und der zieht bei der Abrechnung die Bediensteten so gnadenlos über den Tisch, dass sie immer mehr Schulden anhäufen und immer tiefer in ein unlösbares Abhängigkeitsverhältnis zu der Marchesa Alfonsina de Luna (Nicoletta Braschi) geraten, die als Zigarettenkönigin des Landes derweil ein Leben in Saus und Braus lebt. Doch die dienstbaren Geister ahnen nicht im Entferntesten, dass sie Opfer eine Verschwörung sind, für sie bestand dieser Zustand, der an die feudalistische Herrschaft vergangener Jahrhunderte erinnert, schon immer. Und sie haben keine Ahnung davon, dass die Welt da draußen sich längst weitergedreht hat, dass Demokratie herrscht, dass eine Leibeigenschaft wie die ihre längst abgeschafft und verboten ist. 

Das alles verändert sich erst, als die Marchesa gemeinsam mit ihrem Sohn Tancredi (Luca Chikovani) das Landgut besucht – letzterer weiß genau um die kriminellen Machenschaften seiner Mutter. Er nähert sich – natürlich nicht ganz uneigennützig – Lazzaro an, formt mit ihm einen Freundschaftsbund und täuscht seine eigene Entführung vor, wodurch schließlich die Polizei auf den Plan gerufen wird, die die unhaltbaren Zustände aufdeckt und dem jahrzehntelangen Spuk ein Ende bereitet. Der einzige, der davon nichts mitbekommt, ist Lazzaro, der einen Unfall hatte und erst wieder aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, als alle anderen Bewohner in Bussen einem ungewissen Schicksal entgegengebracht wurden. Doch Wunder geschehen – und so wird Lazzaro allen Menschen, die ihm wichtig sind, Jahre später auf magische Weise wiederbegegnen.

Wie bereits in ihrem vorherigen Film Land der Wunder (Le meraviglie) vermengt Alice Rohrwacher in ihrem neuen Werk wieder Realismus mit Fantastik und erschafft so einen überaus originellen und zugleich sehr traditionsbewussten magischen Realismus, in dem sich Spuren einer messerscharfen Gesellschaftsanalyse finden – eine Mischung, die an die Werke Pier Paolo Pasolinis (Accatone - Wer nie sein Brot mit Tränen aß), Vittorio de Sicas (Das Wunder von Mailand), Luchino Viscontis und Lina Wertmüllers erinnert. Filmhistorisch gesehen ist dies kein geringes Erbe, doch Alice Rohrwacher meistert dies ebenso brillant wie sie es schafft, weit über das bloße Epigonentum hinaus eine sehr eigene Vision der Welt und eine unverwechselbare künstlerische Handschrift zu erschaffen.

Mit ihrem dritten Film nach Le meraviglie und Corpo Celeste aus dem Jahre 2001 etabliert sich Alice Rohrwacher als höchst originelle und bedeutende Stimme des italienischen Gegenwartskinos und legt ein Werk vor, das den Spagat schafft, zugleich zeitlos und aus der Zeit gefallen, sozialkritisch und märchenhaft, naiv und weise zu sein. Und sie dürfte sich damit in den Kreis der Anwärter*innen auf eine Goldene Palme katapultiert haben.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/gluecklich-wie-lazzaro-2018