The House That Jack Built (2018)

Ein Abschied möglicherweise (Versuch einer Annäherung)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Wie rückt man einem Monster zu Leibe? Und dann noch einem Monster, das früher einmal keines war, sondern vielmehr etwas, das man liebte? Wie soll das gehen? Vielleicht ja so, dass man sich nackt macht, sich zeigt, sich zu erkennen gibt. Vielleicht ja so …

Mit Lars von Trier verbindet mich eine lange und meine vielleicht wichtigste Kinogeschichte. Ich habe jeden seiner Filme jeweils im Jahr der Entstehung gesehen, angefangen von The Element of Crime (1984) bis zum seinem gerade in Cannes gelaufenen The House That Jack Built, um den sich dieser Versuch dreht. Ich habe ausnahmslos alle seiner Film bewundert, habe sie geliebt, fand sie inspirierend, habe sie verteidigt, oftmals zu Recht, manchmal auch vielleicht zu Unrecht. Und ich habe sie auch immer ein wenig gehasst für das, was sie mir, was sie den Zuschauern zumuteten. Aber geht es nicht darum auch im Kino? Herausgefordert zu werden, geschüttelt und durcheinandergewirbelt?

Lars von Trier habe ich immer als einen der großen Suchenden des Gegenwartskinos gesehen, einer, der sich nie auf einen Stil, eine Form, eine erzählerische Masche festlegen ließ, sondern immer mit vollem Risiko experimentierte. Einer, dessen Fallhöhe nicht nur künstlerisch, sondern stets auch privat und persönlich enorm war. Er war (und ist) jemand, der mit seinen Neurosen, seinen Ängsten, seinen Obsessionen niemals groß hinter dem Berg hielt, sondern der sich stets zu ihnen bekannte und sie (auch in seinen Filmen) sichtbar machte.

Für mich war schon 2011 Melancholia, Lars von Triers skandalumwitterter Auftritt in Cannes, ein Werk des Abschieds, wenngleich nicht in diesem doppelten Sinne, wie dies hier und heute der Fall ist: Wenn ein Regisseur, der unter schweren Depressionen leidet, einen Film über das Ende der Welt dreht, was, so habe ich mich gefragt, soll denn dann noch kommen? Ich habe mich getäuscht, das kommt gar nicht mal so selten vor – und eigentlich finde ich das sogar gut. Und ich fand in Nymphomaniac sogar Symptome und Anzeichen einer Besserung, ich spürte eine Art von Empathie und Mitleidensfähigkeit, eine Solidarität mit den Suchenden, den Verzweifelten, den Brüdern und Schwestern im Schmerz.

The House That Jack Built ist eine radikale Abkehr davon – eine aufreizend provokative und destruktive Absage an die Leidensfähigkeit, eine Abkehr von jeglichem Humanismus (außer jenem durch die zahlreichen zitierten Kunstwerke repräsentierten), eine permanente Erniedrigung des Lebens als reines Material eines besessenen Baumeisters – und angesichts dieses Filmes stellt sich schon die Frage, ob diese Diagnose wirklich nur auf die Hauptfigur dieses Filmes zutrifft oder auch auf ihren Schöpfer.

Jack ist ein (Bau)-Ingenieur, der eigentlich gerne ein Architekt wäre, ein Mann, der eher dem Handwerk nahesteht, aber nach Sublimierung, nach künstlerischem Ausdruck strebt. Diesem Wunsch nach Sichtbarkeit, danach, etwas zu hinterlassen, das das eigene Leben überdauert, kommt Jack (Matt Dillon) auf zweierlei Weise nach: Zum einen gibt es das Haus, das er baut und das er immer wieder abreist und noch einmal neu beginnt. Und zum anderen die Morde, die er begeht. Am Ende werden es rund 60 sein, doch nur 5 von ihnen werden hier als Incidents (Ereignisse) gezeigt. Sie sollen als Quintessenz (möglicherweise in Anlehnung an Aristoteles, der fünf Grundelemente statt der bis dato vorherrschen Lehre von den vier Elementen annahm) seiner künstlerischen Entwicklung dienen und frei nach Nietzsche zeigen, wie Jack der wurde, der er ist. Beginnend mit dem Incident 1, in dem Uma Thurman eine naiv plappernde und unbewusst Jack provozierende Nervensäge spielt, bis hin zum letzten Ereignis, bei dem Jack gleich mehrere Menschen auf einmal mit einem einzigen Schuss zu töten versucht, reicht dieser mehr als zweieinhalbstündige Totentanz, der von einem Epilog abgerundet wird. In diesem begegnet der Zuschauer erstmals jener Stimme, die vorher bereits aus dem Off als Fragensteller vernehmbar war: Es ist Verge (Bruno Ganz), der – an Dantes Divina Commedia erinnernd – Jack als dessen Führer Virgil durch die ersten Jenseitsreiche führt. Wobei dieser Verge in Kleidung und Auftreten eher an den vorher erwähnten Johann Wolfgang von Goethe erinnert.

Überhaupt führt Lars von Trier in The House That Jack Built jene bildungsbürgerlichen, enzyklopädisch anmutenden Abschweifungen und Einschübe fort, die schon Nymphomaniac I & II durchzogen. Hier allerdings wirken sie selten passend oder anregend, sondern häufig besserwisserisch, pedantisch, neunmalklug. Sie rekurrieren auf Architekturtheorie und Baukunde, auf Goethe und Albert Speer, auf Fachtermini aus der Jägerei, sie zitieren zahlreiche Werke der Bildenden Kunst von Eugène Delcroix bis hin zu Gustave Doré. Durchbrochen von fiesen Gewaltspitzen, von Bildern einer weidmännischen Jagd auf zwei kleine Kinder, von taxidermischen Akten, von abgeschnittenen Brüsten, eingeschlagenen Schädeln, Wunden und Erfrierungen, von Akten des Strangulierens und Erschlagens, Erschießens und Erstechens. Doch viel schlimmer – falls das überhaupt geht – als diese quantitativ nicht sehr umfangreichen Gewaltspitzen ist vor allem der Weg dorthin, die Gespräche mit den Opfern, das sadistische Weiden des Mörders an der Ahnungslosigkeit der Menschen, die ihm gegenüberstehen. Und, so ist zu vermuten, auch die sadistische Freude des Filmemachers an den unguten Gefühlen, die diese Hinleitungen in seinen Zuschauern auslösen, denn diese verfügen natürlich gegenüber den Opfern über einen gewaltigen (und qua Erfahrung des vorher Gesehenen auch gewalttätigen) Wissensvorsprung.

The House That Jack Built ist ein Film, der sich in gewisser Weise nicht nur wie ein Mord (am Publikum), sondern vielmehr wie ein angekündigter (künstlerischer) Selbstmord anfühlt. Und das erfüllt mich mit Sorge. Ebenso aber die Reaktionen auf diesen Film. Erste oberflächliche Recherchen im Netz zeigen bereits, dass es schon Beifall für diesen Film gibt – und zwar von genau der Seite, von der man dies befürchtet hat: von radikalen Maskulinisten und Incels, die sich dem Attentäter von Toronto nahe fühlen und allein aufgrund der Beschreibungen aus Cannes Dinge äußern wie etwa, dass sie bereit wären, Frauen zu töten, wenn sie diesen Film sehen könnten. Damit muss man heute leider rechnen. Der Film hat das vielleicht nicht intendiert, aber er macht es den Apologeten des Bösen auch verdammt einfach, indem er den Frauen, die getötet werden, weder einen Namen noch irgendeine positive Eigenschaft zugesteht. Vielmehr sind sie dumm, naiv, geschwätzig, reine Objekte, bloße Nummern, nacktes Fleisch – Material eben.

Wir leben in verwirrenden Zeiten – und in gewisser Weise spiegelt Lars von Triers neuer Film genau das wider: Er ist dumm und möchte doch unbedingt weise und klug sein, er ist selbstbezogen, narzisstisch, voller Selbstmitleid, geschwätzig, nervtötend und großmäulig. Er will unbedingt erklären und belehren und bleibt am Ende doch kalt und leer. Er ist wie das Haus, das Jack gebaut hat – vergänglich und provisorisch, eine notdürftig gebaute Hütte aus Leibern, die doch so gerne eine Kathedrale wäre. Und er ist wie die Morde, die Jack begangen hat: voller sinnloser Brutalität und Menschen-, insbesondere Frauenverachtung, voller Kunstwillen und der gleichzeitigen Unfähigkeit, diese auch zu erzeugen. Was am Ende bleibt – auch ästhetisch – ist der Abstieg in die Hölle. Ist der Tod.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/the-house-that-jack-built-2018