Directions - Geschichten einer Nacht (2017)

Night on Earth – in Sofia

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

In seinem Episodenfilm „Night on Earth“ (1991) zeigte Jim Jarmusch Taxifahrten in 5 verschiedenen Städten in Nordamerika und Europa. „Directions – Geschichten einer Nacht“ von Stephan Komandarev konzentriert sich auf einen einzigen urbanen Ort – auf Sofia, die Heimatstadt des Regisseurs und Ko-Drehbuchautors –, teilt mit Jarmuschs Werk jedoch die Stärke, mit einem klaren dramaturgischen Konzept viele kurze, interessante Momentaufnahmen zu schaffen.

Auch hier sehen wir immer wieder Leute am Steuer eines Taxis sitzen – und Leute, die als Fahrgast in den Wagen steigen. Mal ergeben sich angeregte Unterhaltungen, sei es über Politik, Wirtschaft, Religion oder die Liebe, zwischen zwei Menschen, die außerhalb der geschilderten Taxi-Situation womöglich gar kein Gespräch miteinander beginnen würden; mal kommt es zu überaus unangenehmen Konfrontationen – zu lautem Brüllen, Handgreiflichkeiten und (Lebens-)Bedrohungen, etwa wenn sich ein Gast (zu Recht) betrogen fühlt und sich deshalb weigert, den überhöhten Fahrpreis zu zahlen, oder wenn sich die Person am Steuer und die Person auf dem Rücksitz unerwartet als Menschen mit gemeinsamer Vergangenheit erweisen und es plötzlich eine alte Rechnung zu begleichen gilt. Überdies wird beispielsweise ein Ehebruch ungewollt enthüllt oder ein suizidaler Brückensprung verhindert.

Manches mutet in diesem nächtlichen Reigen allzu zugespitzt an; dennoch gelingt es dem Skript, welches Komandarev zusammen mit Simeon Ventsislavov verfasst hat, und der Umsetzung, sowohl eine äußere als auch eine innere Spannung zwischen und in den Figuren zu erzeugen. Bereits die erste Episode vereint viele Elemente, die Directions ausmachen: Darin hofft der Unternehmer und Taxifahrer Misho (Vassil Vassilev) auf ein besseres Leben für sich und seine Familie, ist jedoch auf die Gunst des korrupten Kreditgebers Popov (Georgi Kadurin) angewiesen. Nachdem er seine 12-jährige Tochter Nikol (Anna Komandareva) zur Schule gebracht hat und mit deren etwas älteren Mitschülerin Lora (Borislava Stratieva) aneinandergeraten ist, weil er sich weigert, sie zu einem Hotel zu bringen, in dem sie der Prostitution nachgehen will, eskaliert ein Treffen mit Popov, woraufhin der Familienvater erst den Finanzier erschießt und die Waffe anschließend gegen sich selbst richtet.

Mishos Tat wird fortan in einer Radiosendung diskutiert – einige bekunden Verständnis für die Verzweiflung des Mannes und sehen Misho als Opfer des Systems, andere verurteilen dessen Vorgehen. Durch diese Wortbeiträge entsteht zusätzlich zu den Begegnungen in den Taxis ein Gesellschaftsporträt Bulgariens, welches erschreckend finster ausfällt. Der Regisseur selbst spricht von einer „Bestandsaufnahme“. In dieser werden der moralische Verfall sowie die Perspektivlosigkeit der Bevölkerung deutlich – auch in kleinen, vermeintlich beiläufigen Beobachtungen am Rande, wenn Pfandhäuser oder Menschen, die Müllcontainer durchsuchen oder sich auf der Straße prostituieren, von dem Kameramann Vesselin Hristov eingefangen werden. Komandarev erfasst die Atmosphäre in der bulgarischen Hauptstadt treffend – und vermittelt die Botschaft, dass nur ein humanes Miteinander Hoffnung geben kann. Wenn etwa ein potenzieller Selbstmörder und Familienvater (Troyan Gogov) nach einem Gespräch mit einem Taxifahrer (Assen Blatechki) doch wieder die Kraft findet, sich seinen Problemen zu stellen, ist das einer von wenigen vorsichtigen Lichtblicken in der düsteren, rauen Nacht in Sofia.

 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/directions-geschichten-einer-nacht-2017