303 (2018)

Unterwegs zur Liebe

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

Sie kennen sich noch keine zehn Minuten und streiten schon leidenschaftlich über Selbstmord. Eine Verzweiflungstat, die Mitleid auslösen sollte, oder ein egoistischer Akt, der nur Versehrte zurücklässt? Aber sie hält das nicht aus, es ist ihr zu nah am eigenen Leben, und so setzt sie den Kerl an der nächsten Raststätte wieder aus. Das ist so Achterbahn, es muss wohl Liebe sein.

Und dann folgen noch über 120 Minuten von Sich-Verlieben. Lange, geruhsam, wortreich. Jule (Mala Emde), Biologie-Studentin, ist gerade durch ihre Biochemie-Prüfung gerauscht, vermutlich auch, weil sie schwanger ist und deswegen ziemlich durcheinander. Jan (Anton Spieker) hingegen hat gerade erfahren, dass er das Stipendium für sein Politik-Studium nicht bekommen hat. Aber es ist ihm eh wichtiger, seinen leiblichen Vater kennenzulernen, von dessen Existenz er 17 Jahre lang keine Ahnung hatte – eine Ferienliebschaft seiner Mutter, heute Arbeiter in einer kleinen Werft irgendwo an der nordspanischen Küste.

Seine Mitfahrgelegenheit nach Köln lässt ihn sitzen, und so fragt er sich an der Tankstelle durch, ob ihn jemand aus Berlin mit Richtung Westen nehmen kann – Jule fährt sowieso in die Richtung, zu ihrem Freund Alex in Portugal; die Sache mit dem Kind muss besprochen werden. Jan darf also mitfahren, wenigstens ein paar Minuten, dann endet es im Streit am nächsten Rastplatz. Weil er sein Handy verloren hat, sucht er bei einem zufälligen Wiedersehen auf einem Parkplatz weiter westlich wieder den Kontakt. Er rettet Jule aus einer unangenehmen Situation, Entschuldigungen werden ausgetauscht, er darf weiter mitfahren, und eigentlich ist auf eine gewisse Art dann auch schon alles klar.

Oder so will es jedenfalls die Kinoerwartung. Aber Hans Weingartner lässt uns warten und die Noch-nicht-Liebenden auch; er nimmt sein Motto aus Rilkes Schmargendorfer Tagebuch ernst, das er dem Film vorangestellt hat: „Dieses ist das erste Vorgefühl des Ewigen: Zeit haben zur Liebe.“

Und 303 lässt sich diese Zeit – wird aber nicht langweilig, wenn man es aushalten mag (und es ist eine Freude), Jule und Jan bei ihren Diskussionen über eigentlich alles außer Gott zuzusehen und zuzuhören. Es geht um Politik. Um Evolution. Um Liebe, Sex, Altruismus oder Egoismus. Und auch wenn die beiden Hauptfiguren mit Theorien und Thesen um sich werfen: Das wird nie abstrakt, nie theoretisch, sondern bleibt immer sehr nah an ihrem Leben. Natürlich sind das zwei spezielle Hauptfiguren: Beide irgendwie belesen, jede auf ihre Art aber nur halbwissend. Die Argumente austauschen und dabei doch vor allem über sich sprechen. Über ihre Art, Dinge zu entscheiden, Diskussionen zu führen, Konflikte auszufechten.

Ihre theoretischen Diskussionen führen immer zu konkreten Lebensfragen: Kann man sich gut riechen, weil das Erbgut sich besonders gut ergänzt? Oder kann man sich entscheiden, in wen man sich verliebt? Weingartner macht einen Schuh daraus, indem er seinen Protagonist_innen die Liebe einfach passieren lässt – und sie trotzdem beide sich am Schluss auch bewusst dafür entscheiden müssen, fast wie im richtigen Leben.

Den entscheidenden Moment – noch lange vor dem Ende der Geschichte –, als Jule und Jan beide ahnen, was ihnen da passiert, und deshalb beide heimlich am getragenen T-Shirt des anderen schnüffeln, unterlegt der Film mit Hell Yeah von Ani DiFranco:

„Life is a B movie / It's stupid and it's strange / A directionless story / And the dialogue is lame / But in the he said she said / Sometimes there's some poetry / If you turn your back long enough / And let it happen naturally.“

Das ist, vielleicht mehr noch als das Rilke’sche Motto, ein selbstironisches Statement für und über den ganzen Film. Dabei ist 303 natürlich nur scheinbar in den Dialogen richtungslos dahinmäandernd. Äußerlich haben wir es schließlich – die „303“ im Filmtitel rückt das in den Blick, ist damit doch Jules altes Wohnmobil gemeint – mit einem Roadmovie zu tun. Jules und Jans Leben während dieser Reise dreht sich um das „303“, während rundherum die Welt sich wandelt, für immer neue Zwischenstopps und Momente auf dem Weg von Berlin nach Portugal. (Wer will, kann online sogar die Reise des Filmteams nachvollziehen.)

303 hakt so eher nebenbei den Grundtopos des Genres ab, indem die Reise außen natürlich eine Entwicklung innen widerspiegelt: Jan muss sich klarwerden, was er von seinem leiblichen Vater will, Jule braucht eine Entscheidung, wie sie dem Vater ihres ungeborenen Kindes gegenübertritt. Wie nebenbei ist es so aber eben auch ein Film über eine Jugend, die selbstverständlich in einem offenen Europa unterwegs ist (alles kleine Orte, dem Kölner Dom wird nur im Vorüberfahren zugewinkt, ansonsten: ein kleiner Ort in den Ardennen, eine Abtei irgendwo in Frankreich ...) und auf Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch kommuniziert.

Weingartner (der mit Die fetten Jahre sind vorbei und Free Rainer – Dein Fernseher lügt eher politisches als romantischen Kino gemacht hat) hat mit 303 einen Film tief aus dem Herzen des jungen, europäischen, politisch links bewegten, weißen Bildungsbürgertums gedreht – einen völlig unzynischen Film über die Liebe. Ohne Schmalz und doppelten Boden.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/303-2018