Madeline's Madeline (2018)

Freiheit der Körper, Freiheit der Bilder

Eine Filmkritik von Lars Dolkemeyer

Das Kino ist eine Institution der Macht. Es ist die Macht, eine Geschichte erzählen, ein Bild zeigen, den Blick auf eine Welt freigeben zu können – aber auch die Macht, über Menschen zu verfügen. Der Missbrauch dieser Macht wird in jüngster Zeit etwa unter #MeToo diskutiert, aber auch in der Debatte um die Aneignung anderer Geschichte und Geschichten unter dem Stichwort der cultural appropriation geht es um die Hierarchien und Verantwortung der Kunst.

Wie aber können Filme selbst mit diesen Strukturen der Macht in ihren Institution umgehen? Josephine Deckers Madeline’s Madeline zeigt eindrucksvoll, dass es noch eine andere Macht gibt, die der narrativen und institutionellen Macht des Kinos entgegensteht: Die Macht freier Bilder.

In der Dunkelheit entstehen Lichtpunkte, die zu Beginn des Films verschwimmend das Gesicht einer Frau formen, einer Ärztin, die uns anblickt, die diagnostizierend festhält: Deine Emotionen sind nicht Deine Emotionen, Du bist nicht die Katze, sondern in der Katze. Dies ist nur eine Metapher. Der Film könnte als Geschichte eines psychisch erkrankten Teenagers erzählt werden. Als Geschichte von Madeline (Helena Howard), die zu Hause von der Sorge ihrer Mutter (Miranda July) erdrückt wird und die nur in einer experimentellen Theatergruppe unter der Leitung der charismatischen Künstlerin Evangeline (Molly Parker) erblüht.

Zugleich ist es aber ein Film, der gerade nicht als Geschichte erzählt werden kann, der die Dynamik zwischen Regie und Darsteller, zwischen der Autorität künstlerischer Aneignung und ihrem Material, ihren Geschichten und Menschen, erkundet. Der vibrierend-lebendige Mittelpunkt ist Madeline: Die talentierte Schauspielerin, das verunsicherte und ängstliche Mädchen, die mächtige Gewalt dieses Films.

Wenn Madeline in den Proben der Theatergruppe eine Schildkröte spielen soll, befindet sie sich am Strand, unter dem Panzer einer Schildkröte. Wenn ihr Mitspieler einen Bären spielt, donnert sein Gebrüll. Die Wirklichkeit ist Wirklichkeit der Kunst, sie ist die Innerlichkeit eines Erlebens, das Form gewinnt und anderen als Kunstwerk vermittelt zugänglich wird. Madeline’s Madeline beginnt in seinem filmischen Innersten, im Inneren von Madeline. Von dort dehnt er sich in immer größeren Schwingen aus: Geschieht dies wirklich oder ist all das nur eine Metapher? Spielt Madeline die Katze oder wird sie zur Katze?

Eine Antwort auf diese Fragen, wie sie narrativ konventionellere Filme vielleicht geben würden, verweigert Madeline’s Madeline. Josephine Decker versteht Film als eine Kunstform der Innerlichkeit, als Medium des Zugangs zur Sicht auf eine Welt, die ohne den Film unmöglich wäre: Madeline ist zugleich Katze und sie ist es nicht. Die Wirklichkeit ist immer nur das, was lebendig in ihr erlebt, was gesehen, gehört und gefühlt wird.

Wenn Josephine Deckers Filme als grobe, rohe audiovisuelle Ereignisse beschrieben werden, die sich den Konventionen des erzählenden Kinos widersetzen, so ist dies nur teilweise zutreffend: Sie sind nicht grob, sie zeugen nicht von einer rohen bildlichen Kraft, sondern von unendlich verfeinerter Energie, die aus Bildern und Tönen ein Fühlen erzeugt, an dem wir teilhaben können. Erdrückt von der übermäßigen Sorge ihrer Mutter flieht Madeline in die Theatergruppe, flieht zu Evangeline, die ihr Halt und eine andere Art der Liebe gibt: Die Liebe einer Künstlerin zu ihrer Muse. Zunehmend aber entwickelt sich das Theaterprojekt zu einer Abbildung des psychischen und familiären Zustands von Madeline. Das afroamerikanische Mädchen dient nur als Material einer weißen, privilegierten Künstlerin und ihrer Selbstbestätigung.

Auch wenn der Film sich damit in den Bereich einer nicht gerade einfachen Meta-Reflexion des Verhältnisses begibt, das auch zwischen Josephine Decker und ihrer überragenden Hauptdarstellerin Helena Howard besteht, gelingt ihm ein viel größerer Schritt, ein Schritt hinaus: Madeline’s Madeline erzählt nicht einfach eine Geschichte, deren Figur Hindernisse überwindet und ein Ziel erreicht. Die Figur wird überhaupt erst vom Film erzeugt, sie entsteht als filmische Figur, nicht einfach als Metapher einer anderen Geschichte oder Allegorie eines hierarchischen Verhältnisses: Madeline ist Madeline und Madeline gehört ganz sich, sie ist frei, sie hat die Macht, über sich selbst zu bestimmen. In der beeindruckenden Kamera-Arbeit von Ashley Connor scheinen Körper und Welt jederzeit ineinander übergehen zu können. Die Grenzen dessen, was sichtbar und fühlbar ist, werden durchlässig in frei beweglichen Einstellungen, die den Raum jederzeit mit anderen, noch unbekannten Blicken erkunden.

Diese Freiheit ist die Freiheit eines filmischen Körpers, dessen Innerlichkeit keiner Einschränkung unterworfen ist, der sich durch eine Welt bewegt, die von ihm mit jeder neuen Bewegung erst geschaffen wird und in der er gänzlich aufgehen kann. Gegen äußere Hierarchien, gegen Fremdbestimmung, gegen die Macht der Aneignung setzt Deckers Meisterwerk andere Bilder: Die Bilder einer Innerlichkeit, an der Anteil genommen werden kann, deren Offenheit dazu einlädt, einen Blick einzunehmen, der nicht nur wahrhaft anders ist, sondern auch wahrhaft filmisch. Das ist die Größe dieses Films: Den Bildern des Kinos eine Macht zu geben, mit der sie die Welt verändern können.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/madelines-madeline-2018