Styx (2018)

Hundert Mann auf des toten Manns Kiste

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Eine Frau allein auf hoher See. Sie kennt ihr Boot. Sie kennt das Meer. Sie weiß, was zu tun ist. Auch bei heftigstem Sturm in der Nacht. Doch dann dümpelt, 150 Meter neben ihr, ein Fischkutter. Manövrierunfähig, ein Wrack. Mit hunderten Menschen drauf. Wolfgang Fischer spielt in seinem Hochsee-Abenteuerdrama Styx die Situation von Flüchtlingen in Seenot und einer Unbeteiligten, einer Zeugin, einer möglichen Helferin durch.

„Das Boot ist voll!“ „Untergang des Abendlandes!“ „Wir können nicht die ganze Welt bei uns aufnehmen!“ Die Phrasen der neuen und alten Rechten bewegen sich metaphorisch im Bereich des Seerechtes. Hilfe ist Pflicht bei Menschen in Seenot. Wenn sie vertretbar ist. Gegebenenfalls reicht ein Funkspruch an die Küstenwache. Hier die europäische, die deutsche Frau in ihrer 12-Meter-Yacht. Dort hunderte afrikanische Menschen, akut bedroht. Wie weit geht die Hilfspflicht? Was kann man sich selbst zumuten? Die Yacht ist zu klein, die Wasserflaschen sind zu wenig.

Eine klare Metapher auf die Situation der „Festung Europa“ baut Fischer auf, eine klare moralische Frage.  Was kann, was soll auf dem Boot der Deutschen passieren angesichts der Übermacht an Hilfsbedürftigen? Doch Fischer ruht sich nicht auf einer reinen Hochsee-Flüchtlings-Parabel aus. Klug baut er seine Geschichte auf, macht sie eindringlich – und das gerade nicht einfach mit der quälend-moralischen Tränendrüsenfrage, wohin Hilfe reichen darf. Styx ist zunächst vor allem ein Abenteuerfilm, von vornherein. Gefilmt mit äußerster Präzision und mit höchster Kunst: Eine Straßenkreuzung, ein paar Raser, ein Autounfall. Und in langen Einstellungen die Hilfe, die dem Verletzten zuteilwird, Feuerwehr, Notarzt, Kreislaufstabilisierung, Krankentransport. Die Notärztin: Die sehen wir dann wieder, in Gibraltar. Sie belädt ihr Segelboot mit allem, was sie braucht. Sie ist erfahren und souverän. Kennt jeden Handgriff. Spezifisch, genau, detailliert fängt die Kamera das Segel-Handwerk ein. Die Ruhe auf dem Meer. Die Navigation. Und die Vorbereitungen auf den kommenden Sturm.

Dann das, womit die Frau doch nicht gerechnet hat: Dass keiner hilft. Offenbar weiß die Küstenwache genau, dass sich das Flüchtlingsproblem mit der Dauer von ein paar Tagen von selbst erledigt. Man kann es aussitzen. Doch die Frau ist schon viel zu nah dran. So dass einer zu ihr schwimmen kann. Kingsley. Vielleicht 14 Jahre, entkräftet, verwundet. Die Frau pflegt ihn. Und muss einen Weg finden, für sich, für die havarierten Geflüchteten.

Eine Frau allein auf hoher See. Zusammen mit hundert anderen. Deren Boot ist voll. Deren Untergang ist nahe. Sie kann nicht jeden bei sich aufnehmen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/styx-2018