Utøya 22. Juli (2018)

Kaja

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Dieser Film wird unweigerlich Diskussionen auslösen: Sind sieben Jahre zeitlicher Abstand ausreichend für eine fiktionale Verarbeitung? „Darf“ man über einen terroristischen Anschlag so subjektiv erzählen? Wie viel analytische Tiefe braucht ein Film über Terrorismus? 

Oslo, 22. Juli 2011. 17:06 Uhr. Aufnahmen einer Überwachungskamera sind zu sehen. Sie wechseln den Ausschnitt, es erfolgt eine Explosion. Der Ort wechselt: Kurz nach 17 Uhr, die Insel Utøya, auf der das Jugendcamp der Arbeiderpartiet stattfindet. Es ist ein Zeltlager auf einer norwegischen Insel, die Jugendlichen sind beunruhigt wegen der Explosionen, ein Mädchen macht sich Sorgen um seine Mutter, die in dem Regierungsgebäude arbeitet. Sie reden darüber, ob es wohl ein terroristischer Anschlag war. Kaja (Andrea Berntzen) ärgert sich außerdem über ihre Schwester Emilie (Elli Rhiannon Müller Osbourne), die mit anderen schwimmen war und vergnügt wiederkehrt. Sie findet ihr Verhalten nicht angemessen -an einem Tag wie diesem.

Es ist ein Nachmittag in einem Jugendcamp, gerade noch haben sie Waffeln gegessen, sich geneckt und diskutiert, auf einmal fallen Schüsse. Plötzlich laufen Jugendliche schreiend umher, sie flüchten sich erst in ein Gebäude, dann in ein Waldstück. Sie wissen nicht, woher die Schüsse kommen – und auch die Zuschauer wissen es nicht, sie sind genauso orientierungslos wie die Handkamera, die das Geschehen erfasst. Für die folgenden 72 Minuten ohne sichtbaren Schnitt – solange hat der Angriff gedauert – bleibt die Kamera bei Kaja, nimmt oftmals deren Perspektive ein. Dadurch gelingt es Regisseur Erik Poppe in seinem aufwühlenden Film, die Desorientierung, die Verzweiflung und die konstante Anspannung auf den Zuschauer zu übertragen. Denn die Kamera verfolgt Kaja nicht einfach, sie bleibt bei ihr, scheint auf einer Höhe zu sein. 

Mit Kaja – von Andrea Berntzen mit sehr großer Intensität gespielt – läuft man durch den Wald, versteckt sich, sucht ihre Schwester, hilft einem Jungen und bleibt bei einem verletzten Mädchen. Mit ihr wächst die Panik, immer wieder sieht man jemanden durch den Wald laufen und weiß nicht, ob es der Täter ist oder einer der Jugendlichen. Hier ist man ähnlich ratlos und gefangen, hier wartet man ebenso sehnsüchtig auf Rettung von außen – und ist dem Schrecken und herzzerreißenden Momenten ausgeliefert. Fast immer trifft Poppe auch hier den Ton, nur eine kurze Intonation von Cindy Laupers True Color irritiert.

Dennoch ist der Film niemals voyeuristisch oder ausbeuterisch. Obwohl letztlich 69 Jugendliche gestorben sind, verweigert sich Erik Poppe Blutbädern oder anderen Effekten. Aber man bekommt dennoch mehr als nur eine Ahnung, wie es sich anfühlen muss, inmitten eines Angriffs zu stecken. Dabei geht es Erik Poppe allein um die Opfer – der Täter ist nur einmal von weiten zu sehen. Auch das passt zum einen zum Erleben der Opfer, die nicht wussten, wer und wie viele dort auf sie schießen; zwischendurch glaubten sie gar, es seien Polizisten. Zum anderen aber verweigert sich Poppe hier auch, dem Täter noch mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Noch nicht einmal in den Texttafeln vor dem Abspann fällt sein Name. 

Dieser Film wird für viele Diskussionen sorgen – über Pietät, über Angemessenheit, über fehlende Analyse, über den Zeitpunkt, zu dem der Film ins Kino kommt. Aber hier geht es nicht um eine gesellschaftliche Perspektive, hier geht es auch nicht um eine akkurate oder gar dokumentarische Rekonstruktion der Ereignisse. Mit seiner Unmittelbarkeit erinnert Utøya 22. Juli an Son of Saul oder auch Gus van Sants Elephant - und bereits unmittelbar nach dem Film waren die altbekannte Frage zu hören, die immer nach Filmen gestellt wird, die auf wahren Ereignissen basieren und mit Subjektivität arbeiten: Ist es nicht geschmacklos, dass Leute im Kino sitzen und genau dieses Erlebnis nacherleben sollen? Darf man aus einem solchen Ereignis einen Film drehen, der mit den Elementen eines Thrillers arbeitet und einen heldenhaften Charakter in den Mittelpunkt stellt? Doch es erscheint wichtig, gerade in diesen Zeiten, auch daran zu erinnern, dass Terrorismus und Rechtspopulismus nichts ist, was man hinnimmt und stets auf einer abstrakten Ebene verhandeln kann. Diesem Film aber kann man nur schwer mit ästhetischer oder ethischer Kritik von sich fernhalten, denn hier wird kein Leid spekulativ ausgebeutet, sondern der Vorstellungskraft extrem schmerzvoll nah gebracht. 

Außerdem gibt dieser Film an keiner Stelle vor, Antworten zu haben. Vielmehr überlässt er es dem Zuschauer, Rückschlüsse ziehen – und auch sein Verhältnis zwischen Film und Realität finden. Kaja hat darauf hingewiesen, gleich am Anfang, in ihrer ersten Einstellung: „Du wirst es nie verstehen“ sagt sie in die Kamera und blickt den Zuschauer direkt an. „Aber hör mir einfach zu.“ Erst in der nächsten Einstellung ist zu sehen, dass sie gerade am Telefon mit ihrer Mutter spricht, doch gemeint sind auch wir, die Zuschauer. Verstehen werden wir es nicht, weil wir nicht dabei sein. Aber wir können uns erinnern – vor allem daran, dass es bei einem Anschlag nicht nur um dem Täter geht, sondern auch um die Opfer, die allzu oft unbekannt und unerkannt bleiben. In der medialen Berichterstattung, aber auch in Filmen. 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/utoya-22-juli-2018