Ella und Nell (2018)

Der Horror der eigenen Seelenlandschaft

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Zu Beginn von Ella und Nell dreht sich eine Eule der Kamera entgegen. Ihr Gesicht ist für uns Menschen unmöglich zu lesen. Es wirkt würdevoll, mysteriös, gespannt, sicher angriffslustig und gleichzeitig auch ein bisschen niedlich. Wahrscheinlich liegt es am gegenwärtigen Zustand ihres Betrachters, wie er dieses enigmatische Gesicht liest. Beim Wandern durch den Wald gibt es immer wieder diese Situationen, die in Sekundenbruchteilen kippen können. Wo der Eine noch die Bäume bewundert, erschrickt der Nächste ob eines Knackens im Unterholz.

Letztere Rolle fällt im Film Ella (Stephanie Petrowitz) zu. Sie hat sich von ihrer Freundin Nell (Kirsten Schlüter) zu einer Wanderung durch das sächsische Elbsandsteingebirge überreden lassen und schnell fragt man sich, warum diese wunderschön urwüchsige Landschaft eigentlich so selten im Kino zu sehen ist. Ella und Nell beginnt in Berlin, von hier brechen die beiden Großstadtpflanzen auf. Für den größten Teil des Films suchen sie dann aber ihren Weg durch den Wald. Das Licht fällt grüngolden durch das dichte Blätterdach und die Berggipfel gewähren einen atemberaubenden Blick.

Die dffb-Absolventin Aline Chukwuedo hat ihr Langspielfilmdebüt aber nicht nur wegen des schönen Grüns in der Natur angesiedelt. Vielmehr wird der dichte Wald bei ihr zur Seelenlandschaft. Nur nicht so richtig zur Seelenlandschaft von Ella oder Nell, denn von den Frauen, beide etwa um die Vierzig, erfahren wir recht wenig. Ella hat Familie, ist kürzlich in ein Eigenheim gezogen, spielt mit dem Gedanken, ein Café zu eröffnen. Nell hat gerade ihre Doktorarbeit geschrieben, übernachtet aber temporär in einem Yogastudio. Die Gründe bleiben im Ungefähren, aber anscheinend hat sie einen Klinikaufenthalt hinter sich – Ella hat sich währenddessen nicht gemeldet. Unausgesprochenes liegt also in der Luft, unterschwellige Vorwürfe, Aggressionen. 

Chukwuedo nutzt in Ella und Nell kaum Musik und bei der Montage lässt sie sich vom Wald helfen. Immer wieder zerschneiden kleine Äste und Zweige das Bild, gedrungene Felsen schließen das Licht aus, zwingen die Freundinnen, sich zu ducken oder durch schmale Gänge hindurchzuzwängen. Ständig ist der Pfad abgeschnitten, zugeschüttet, dann muss ein improvisierter Umweg her. So entwickelt der Film gelegentlich eine regelrechte Horroratmosphäre. Jederzeit scheint er sich in jede Richtung entwickeln zu können: ein wildes Tier könnte auftauchen, ein Mann mit Messer hinter der nächsten Biegung stehen, Ella und Nell könnten sich gegenseitig zerfleischen, psychisch oder physisch. Aber der Film verläuft antiklimatisch. Ellas schlimmste Ängste bestätigen sich nicht, Nell findet den Weg. Es braucht auch nicht mehr als die Suggestion von Horror. Das Gefühl unbekannte Wege zu beschreiten. Vielleicht könnte man sagen: der Wald in Ella und Nell steht für die Untiefen, die man in Augenblicken der Achtsamkeit zu finden droht. Die es so schwierig machen, beunruhigende Gedanken über das eigene Leben zuzulassen, weil es leichter ist, einfach weiter zu strampeln. Nell hat das sumpfigste Gebiet schon hinter sich: sie stapft mit einem winzigen Rucksack staunend und sorglos durch die Welt, lässt sich nicht mehr so leicht erschüttern. Ella hält an ihrer Ordnung fest, alle paar Minuten zieht sie mit einem nur halb euphorischen „Überraschung!“ etwas Essbares aus ihrem riesigen Rucksack. Aber wirklich vorbereitet auf das, was sie im Wald finden wird, ist sie nicht.

An der Psyche ihrer Figuren ist Aline Chukwuedo nicht interessiert. Vielmehr scheint sie davon auszugehen, dass die Orte uns prägen, an denen wir uns aufhalten. Was Nell im Elbsandsteingebirge eigentlich sucht, ist ein geheimes Kraftfeld, ein Ort zum Meditieren. In so spirituellen Tiefen muss man aber gar nicht graben: noch auf der Hinfahrt halten die beiden Freundinnen kurz an, kaufen Gebäck, das sie nicht kennen. „Was ist doppelt gebackenes Brot?“, fragt Nell und Ella antwortet in gespieltem Sächsisch: „Ich weiß es doch auch nicht.“ Dieser kurze Moment reicht um festzuhalten, dass die Realität einer meditierenden Doktorandin und einer Mutter aus Berlin eine ganz andere ist als die einer Bäckerin aus einem kleinen Dorf am Fuße des Elbsandsteingebirges. Es hat eine gewisse Ironie, dass die Suche nach dem Unbekannten in Ella und Nell ausgerechnet ein Ausflug zweier Berlinerinnen nach Sachsen ist. Das Bundesland, das man wegen anhaltender Berichte von Fremdenfeindlichkeit gern oftmals verschweigen möchte, das jedoch im Magen des deutschen Kollektivbewusstseins unaufhörlich rumort. 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/ella-und-nell-2018