Einmal bitte alles (2017)

Lost (and found?)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Ein Lebens(abschnitts-)gefühl, eine Stimmung einzufangen – das ist der Anspruch etlicher Fiktionen über das Erwachsenwerden. Mal befassen sich diese mit (viel zu) frühen Erfahrungen in der Kindheit und Jugend, die eine (vor-)zeitige Entwicklung der Persönlichkeit mit sich bringen, mal schildern sie einen späten Coming-of-Age-Prozess, welcher die nicht mehr ganz so junge Hauptfigur endgültig dazu zwingt, die Unbeschwertheit der Adoleszenz hinter sich zu lassen. Einmal bitte alles – das Kinofilmdebüt der 1985 in Gießen geborenen Helena Hufnagel – gehört zur zweiten Gruppe: Das Drehbuch, das Hufnagel gemeinsam mit Sina Flammang und Madeleine Fricke verfasste, erzählt von der Orientierungslosigkeit einer 27-Jährigen, die weder privat noch beruflich irgendwo "angekommen" zu sein scheint und sowohl innerlich als auch von außen einen wachsenden Erwartungsdruck verspürt.

Seit fünf Monaten macht Isi (Luise Heyer) ein Praktikum in einem Münchner Verlag und hofft, auf diesem Wege ihrem Traum einer Karriere als Illustratorin näher zu kommen – doch für ihre Chefin, die Verlagsinhaberin Ursula Finsterwalder (herrlich: Sunnyi Melles), ist sie immer noch einfach nur "der Kaffee". Aus ihrem Elternhaus ist Isi bereits vor acht Jahren ausgezogen, das Studium ist abgeschlossen – aber die Angst, dass ihr Leben rückwärtsläuft, intensiviert sich, als ihre beste Freundin und Mitbewohnerin Lotte (Jytte-Merle Böhrnsen) innerhalb kurzer Zeit einen Job und einen festen Freund findet, während Isi ihre Praktikumsstelle verliert und ihr Zimmer vorübergehend räumen muss, da sich darin fieser Schimmel gebildet hat. So landet sie – ohne Geld auf dem Konto – in der WG des chaotischen Musikers Klausi (Maximilian Schafroth) und des disziplinierten Medizinstudenten Daniel (Patrick Güldenberg) und versucht, an ihrer ersten Graphic Novel zu arbeiten: einer freien Adaption von F. Scott Fitzgeralds Roman Die Schönen und Verdammten (1922), da dessen Protagonist_innen im Grunde "dieselben Probleme wie wir jetzt" haben, wie Isi an einer Stelle feststellt.

An Isis ambitioniertem Vorhaben lässt sich auch eine der größten Stärken von Einmal bitte alles aufzeigen: So wie das Werk von Fitzgerald einerseits eine treffend beobachtete Studie der Lost Generation in den Roaring Twenties und andererseits eine völlig zeitlose Charakterisierung menschlicher Werdejahre ist, überzeugt Hufnagels Film sowohl als universelle Geschichte als auch als präzise Darstellung einer individuellen biografischen Situation. Obwohl es uns Isi in ihrem Wankelmut nicht immer leicht macht, sie zu mögen, dürfte es letztlich allen, die gerade ebenfalls in Isis Lebensphase stecken oder diese noch in Erinnerung haben, nicht schwerfallen, Anknüpfungspunkte zu finden und so gemeinsam mit Isi zu hoffen und zu scheitern, zu trinken und zu tanzen, zu (unangenehmen) Erkenntnissen zu gelangen und sich langsam, aus eigener Kraft wieder aufzurichten. Man sieht der Protagonistin nicht einfach nur dabei zu, man fühlt wirklich mit ihr mit. Dies ist nicht allein dem Skript geschuldet – das im letzten Drittel einige Konflikte etwas zu hastig zum Abschluss bringt, in seiner Figurenzeichnung und in den Dialogen jedoch durchweg gelungen ist –, sondern wird auch durch die Bildgestaltung hervorragend unterstützt: Mit Isis zermürbtem Gesicht im kunterbunten Konfettiregen bringt Hufnagel zusammen mit ihrer Kamerafrau Aline László sowie ihrer Schauspielerin Luise Heyer das Nebeneinander von Partyexzess und drängenden, existenziellen Fragen perfekt auf den visuellen Punkt. Hinzu kommen reizvolle Aufnahmen der bayerischen Hauptstadt fernab von Schickimicki–Klischees sowie ein sorgfältiges Produktions- und Kostümdesign (von Debora Reischmann beziehungsweise Stefanie Hamann), welches Isis Welt in kleinen, oft auch witzigen Details Authentizität verleiht.

In Luise Heyer (Westwind, Fado) hat Hufnagel zudem eine wunderbare Interpretin der zentralen Rolle gefunden: Heyer bringt das Umherdriften sowie das Destruktive von Isi, aber ebenso deren Willen, sich und anderen zu demonstrieren, was sie leisten kann, stimmig zum Ausdruck und erweckt damit eine klug geschriebene Figur zu einem aufregenden, interessanten Leben. Also: (Mindestens) Einmal bitte anschauen, alle!
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/einmal-bitte-alles