Voll verschleiert (2017)

Glaubenskämpfe mit Witz und Charme

Eine Filmkritik von Falk Straub

Der Student Armand (Félix Moati) liebt seine Kommilitonin Leila (Camélia Jordana), doch Armands Mutter Mitra (Anne Alvaro) ist in die Vorstellung verliebt, die perfekte Ehefrau für ihren Sohn bereits andernorts gefunden zu haben. Von Leilas Existenz wissen die Feministin und ihr handzahmer kommunistischer Mann Darius (Predrag Manojlovic) nichts. Die resolute Exiliranerin mit der unorthodoxen Familienplanung ist allerdings die geringste Unwägbarkeit für die Zukunft des Paares, angesichts der Überraschung, die Leila und ihren jüngeren Bruder Sinna (Carl Malapa) am Flughafen erwartet.

Dort steigt ihr älterer Bruder Mahmoud (William Lebghil) mit frisch gewachsenem Bart und falsch verstandener Liebe zu Gott aus der Maschine. Er sei ein neuer Mensch und künftig der Herr im elternlosen Haus. Sagt's und reißt ein Poster von Fellinis La dolce vita von der Wand, an die er das Konterfei des Gründers der Muslimbruderschaft, Hassan al-Bannā, nagelt. Anzügliche Familienfotos landen Seite an Seite mit westlicher Kleidung im Müll, die Chipkarte von Leilas Handy in Mahmouds Magen, ihr Reisepass im Feuer. Fortan darf Leila die Wohnung in der öden Betonwüste der Pariser Peripherie nicht mehr verlassen. Das süße Leben ist vorbei.

Für ihren ersten Spielfilm hat sich die 1968 im Iran geborene Sou Abadi nicht nur ein heikles Thema, sondern auch ein schwer zu meisterndes (Sub-)Genre ausgesucht. Um Leila weiterhin zu sehen und ihr gemeinsames Praktikum bei den Vereinten Nationen in New York in die Wege zu leiten, zieht sich Armand einen Tschador über und nennt sich spontan "Scheherazade". Zum Culture Clash gesellt sich der Rollentausch, den Abadi nach allen Regeln der Kunst durchexerziert. Denn es kommt, wie wir es spätestens seit Billy Wilders Manche mögen's heiß (1959) kennen. Kleidung, Schminke und Stimmlage bereiten Probleme und besorgen den nötigen Slapstick. Mahmoud verliebt sich wider besseres Wissen in die verschleierte Schönheit und hetzt ihr seine Kumpels nach, was in allerlei Situationskomik mündet. Armand vertieft sich derweil selbst in den Glauben, um den aufdringlichen Gläubigen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, was ihn in Mahmouds Augen nur noch begehrenswerter macht und seine Eltern am Glauben ihrer atheistischen Erziehung zweifeln lässt. Als Wechsler zwischen den Welten ist es schließlich Armand, der vermittelt. Unter seinem Schleier muss er sich nicht nur lüsterner Blicke und lästernder Sprüche muslimischer Männer und Frauen erwehren, sondern ist auch der Diskriminierung der ach so toleranten Freiheitsfanatiker ausgesetzt.

Dank eines klugen, mutigen Drehbuchs und eines ausgezeichneten, spielfreudigen Ensembles gelingt diese Gratwanderung erstaunlich gut. Sou Abadi, die mit 15 Jahren nach Frankreich kam, tappt nicht in die Falle, Religion per se zu verteufeln, Strenggläubige pauschal als Dummköpfe zu verunglimpfen oder die morgenländische gegen die abendländische Kultur auszuspielen. Dummköpfe gibt es in Voll verschleiert freilich zur Genüge, aber auf allen Seiten. Und in die Pfanne haut Abadi nur diejenigen, die lieber stur Regeln befolgen, anstatt sich ihres Verstandes zu bedienen. Das führt zu wundervoll verrückten Situationen, die die Logik dieser Regelwerke ad absurdum führen. Dann steigt Mahmouds konvertierter Freund Fabrice alias Farid (Oscar Copp) während einer Verfolgung auf ein Fahrrad um, weil ihm sein Glaube verbietet, in einen Bus voller Frauen zu steigen. Oder Abadi setzt dem Klischee des arabischen Schlägers eine Truppe Geflüchteter entgegen, die für Scheherazade die arabischen Schläger spielen. Im rasenden Finale schraubt die Regisseurin den Zwist zwischen Schiiten und Sunniten in herrlich hirnverbrannte Höhen. Ein anderes Mal ist sich Mitra sicher, hinter Armands Kostümierung könne sich nur eine Spionin des iranischen Regimes verbergen, so wichtig nimmt sie sich und ihren Freiheitskampf im Pariser Exil.

Es wäre ein Leichtes, all diese (blinden) Eiferer der Lächerlichkeit preiszugeben. Sou Abadi nimmt ihre Enttäuschungen ernst, wodurch manche anfänglich arg karikierte Figur doch noch Kontur gewinnt. Während die gut integrierte Mitra immer noch dem Verlust ihrer Heimat nachtrauert, hat Mahmoud in Frankreich nie ein Zuhause gefunden. Nach dem Tod der Eltern brach er seine Ausbildung ab, um für seine Geschwister zu sorgen und so seiner Schwester das Studium erst zu ermöglichen. Unterwegs hat er den Glauben seiner Eltern an Freiheit und Chancengleichheit irgendwo verloren. Wenn er heute aus dem Fenster blickt, sieht er nur Abgehängte wie sich selbst, nur "die Freiheit, mit Shit zu dealen und die Chance rumzusitzen", wie er Leila entgegenhält. Dass es auch einen anderen Weg gibt, zeigt ihm Armand durch seinen unverstellten Blick auf den Islam. Dessen Pseudonym einer Männer bekehrenden Frau ist nicht ohne Grund gewählt. All die Widersprüche zwischen Theorie und Praxis – ob in den Religionen oder politischen Bewegungen – flüstert uns Sou Abadi, die bislang vornehmlich als Schnittmeisterin arbeitete, immer wieder mit punktgenauen Dialogen zu. "Es gibt Tage, an denen die Wahrheit ihr Gesicht besser nicht zeigt", heißt es ganz am Anfang ihres Films. Am Ende steckt selbst unter manch flachem Witz viel Wahrheit über den Zustand unserer Gesellschaft(en).

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/voll-verschleiert