Leichen pflastern seinen Weg

Das Recht auf Rechnung

Eine Filmkritik von Simon Hauck

„Ich bin ein volkstümlicher Künstler“, sagte Sergio Corbucci (1927-1990) gerne gegenüber Filmjournalisten. Er wolle mit seinem Kino schlichtweg jeden erreichen, erklärte er einst im ruhmreichen Cinecittà der frühen 1960er Jahre, als er dort als ziemlich erfolgreiches Junggenie eine Reihe von Komödien (Toto, Peppino und das süße Leben) und Sandalenfilmen (Romulus und Remus) wie im Akkord drehte: Ob dabei Akademiker oder Bauarbeiter seine Filme schätzten – oder am Ende gar keiner mehr, wurde für ihn als persönliches Credo im Laufe seiner höchst wechselhaften Regiekarriere bis Ende der 1980er Jahre des vorigen Jahrhunderts zunehmend auffälliger.
Er wollte schließlich frühzeitig niemandem mehr etwas beweisen, sondern einfach nur weiterarbeiten und – Ironie der Geschichte zu Klaus Kinskis manischer Dreharbeit – vor allem Geld damit verdienen. Um möglichst facettenreiche Stoffe, renommierte Festivalpreise oder kurzum einen ehrenwerten Platz in den Filmlexika dieser Welt ging es Corbucci (Django/Minnesota Clay) zu dieser Zeit schon lange nicht mehr.

Von Francesco Rosi ist hinsichtlich des schlampigen Genies Corbuccis dieser kurze, absolut bezeichnende Wortwechsel überliefert: „Schämst du dich nicht, so schlechte Filme zu machen?“, wollte er vom gefallenen Genre-Papst einst wissen. Und Sergio Corbucci entgegnete ihm darauf wenig herzlich, sondern ganz schön direkt, geradezu unverblümt: „Ja, ich schäme mich, aber wenn ich zur Bank gehe, mein Geld abzuholen, schäme ich mich nicht mehr.“

Nichtsdestotrotz hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung des früheren italienischen Starregisseurs bis heute vor allem ein Film ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt, der sich nicht nur in cinephilen Kreisen größtmöglicher Resonanz erfreut, sondern auch beim größeren Publikum mächtig Eindruck hinterlassen hat: Leichen pflastern seinen Weg (im Original noch viel lautmalerischer: Il grande silenzio) aus dem Umbruchsjahr 1968, der jetzt – digital ordentlich restauriert und mit sehenswertem Bonusmaterial – zum ersten Mal in Deutschland auf Blu-ray erschienen ist.

Kaum ein Monat vergeht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, in dem dieses ehemalige Kino-Skandolon nicht irgendwo im Nachtprogramm – dazu in höchst bescheidener Bild- und Tonqualität – wiederholt wird. Und dort auch ein kleines Stück weit versteckt wird: Denn dieser fulminante Anti-Western, gedreht unter anderem in der berauschenden Ski-Landschaft von Cortina d'Ampezzo, ist im Wesen ein zutiefst beunruhigendes Stück Genrekino allererster Güte, das zur Entstehungszeit Ende der 1960er Jahre zeitweise sogar das Ansehen des höchst eigenwilligen Filmemachers ordentlich ramponiert hatte.

Selten zuvor ging es nämlich nihilistischer, bösartiger und verstörender auf der Leinwand zu: In diesem atmosphärisch überwältigenden Dauerschneegestöber (Kamera: Silvano Ippolitit, dem Bilderstürmer von Salon Kitty und Caligula) schert sich der zeitlebens als links geltende Corbucci keineswegs um bereits etablierte Western-Genre-Traditionen, zu denen er kurz zuvor (z.B. mit Die Grausamen) selbst nicht unwesentlich beigetragen hatte. Ganz im Gegenteil: Mit sichtlicher Lust an der Tabuzertrümmerung setzt er in dieser lange nachhallenden Räuberpistole um einen hundert Prozent stummen Helden (unvergesslich: Die sprechenden Augen Jean-Louis Trintignants), der sich in einer Privatfehde mit dem superzynischen Kopfgeldjäger Loco (Klaus Kinski – wer sonst?) befindet, einen inszenatorischen Gefrierpunkt nach dem anderen, bis die konventionellen Grenzen zwischen weiß und schwarz in der Figurenzeichnung vollends ins Schlittern geraten sind – und das Böse erstmals lauthals triumphiert!

Zusammen mit den einmal gehörten, nie mehr zu vergessenden Klängen aus der Feder von Ennio Morricone, die dem Gesehenen eine zweite, wundersam transzendente Hülle überstülpen, ist Leichen pflastern seinen Weg auch bald 50 Jahre nach seiner Entstehung ohne Zweifel das, was man gemeinhin einen echten Kultfilm nennt: Inklusive eines lauten Rufs nach gesellschaftlichen Veränderungen, weshalb er beispielsweise gerade in einigen südamerikanischen Ländern bis in die Gegenwart hinein als großer Befreiungsfilm gefeiert wird.

Denn der moralisch-ethische Wert der Paragraphentreue wird hier in Corbuccis eiskalter Regie minütlich ad absurdum geführt: Obwohl hier beinahe permanent und mit auffallender Brutalität getötet wird, passiert letztlich im gesamten Film kein einziger Mord! Den Revolver zieht man an dieser Stelle nämlich lediglich für steckbrieflich Gesuchte – oder wenn es die bloße Notwehr erfordert. Damit lieferte der italienische Regisseur quasi die erste vollkommene Dekonstruktion eines Westerns ab oder kurz gesagt: Ein revolutionär kühnes Filmerlebnis, das heute noch aufrüttelt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/leichen-pflastern-seinen-weg