Naomis Reise (2017)

Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Elena schuftet hart im peruanischen Reichenviertel, schmeißt den Haushalt, versorgt die Kinder. Und bekommt dennoch keine zwei Monate unbezahlten Urlaub gestattet. Sie reist trotzdem nach Berlin, zusammen mit ihrer 20-jährigen Tochter Naomi. Denn in Berlin will und muss sie vor Gericht auftreten, als Nebenklägerin in einem Mordprozess: Mariella, ihre Älteste, war getötet worden. In "Naomis Reise" inszeniert Frieder Schlaich diese Gerichtsverhandlung und kontrastiert sie mit den aufgewühlten Emotionen der betroffenen Angehörigen: Nicht als Melodrama, sondern als Justizthriller der anderen Art, der aus Verhören und Plädoyers ein ganzes Universum erschafft.

Frieder Schlaich inszeniert einen realen Prozess nach, bei dem ein Mann seine südamerikanische Ehefrau brutal umgebracht hat: Sehr detailliert, sehr exakt zeichnet Naomis Reise die juristische Vorgehensweise und die gerichtlichen Rituale nach, die zu einem gerechten und unvoreingenommenen Urteil führen sollen. Richter und Anwälte spielen sich mehr oder weniger selbst, die Dialoge sind die des wirklichen Lebens vor Gericht. Wer TV-Gerichtsshows kennt, wird hier mit Justitias Wirklichkeit konfrontiert, in der der Richter betont sachlich und neutral der Verhandlung vorsitzt und die Anwälte einerseits mit Paragraphen, andererseits mit wohldosierten Polemiken und strategisch eingesetzten Emotionen ihre Standpunkte vertreten.

Inmitten diese von außen undurchschaubaren Spielregeln werden Elena und Naomi geworfen, die mittels Dolmetscher per Kopfhörer der Verhandlung folgen. Für sie ist die Tat, sind die Folgen nur allzu real: Tochter und Schwester haben sie verloren, den Enkel, inzwischen im Kinderheim, dürfen sie nicht sehen, für die Reise nach Berlin haben sie ihr altes Leben erstmal aufgegeben. Doch vor Gericht zählen Gesetz. Tathergang, Motiv, Beweise und Indizien.

Schlaichs Film lebt von diesem Gegensatz: Von der Gerichtsverhandlung, die quasi mit dokumentarischen Mitteln inszeniert ist, ein Re-Enactment eines möglichen tatsächlichen Falles, und von den Emotionen, dem Innenleben speziell von Naomi, die alsbald als alleinige Angehörige am Prozess teilnimmt – ihre Mutter regt sich zu sehr auf. So statisch und nüchtern das Geschehen vor Gericht ist, so ist es eben tatsächlich. So emotional es bei den Freunden zugeht, bei denen Naomi und ihre Mutter untergekommen sind: so verläuft der Trauerprozess, aber eben nicht der Mordprozess. Schlaich setzt seine beiden Ebenen klug gegeneinander, ohne eine zu verurteilen, und es ist dem Film hoch anzurechnen, dass er sich nicht melodramatisch auf die Seite der Emotion schlägt, sondern dass er die beiden Welten in ihrem je eigenen Recht für sich stehen lässt.

Naomi erfährt im Prozess Dinge, die sie vielleicht lieber nicht hätte wissen wollen. Wie genau der Tatabend verlaufen war – sachlich vom Staatsanwalt vorgetragen, umso aufwühlender im Inhalt. Oder die Einblicke in das Zustandekommen der Ehe: Ein Mann, der „exotische“ Frauen begehrt, und sein Opfer, das sich möglicherweise bewusst auf einen Handel eingelassen hat. Die Hochzeit als Eintrittskarte in die Erste Welt, als Auslassticket aus dem Elend ... Der Verteidiger trifft durchaus einen Punkt, wenn er den materiellen Gesichtspunkt immer wieder anspricht: Nicht, weil er je auf Freispruch plädieren würde, das ist ausgeschlossen. Aber weil er, das ist sein Recht und seine Pflicht, für seinen Mandanten das Beste herausholen muss und deshalb Aspekte auspackt, die Naomis Bild der Familie verunschärfen.

Es sind Einblicke in einen Heiratsmarkt zwischen Erster und Dritter Welt, dessen Chauvinismus nah am Rassismus liegt. Und auf der anderen Seite mit dem Wunsch nach wirtschaftlicher Sicherheit tendenziell in Richtung Prostitution verläuft. Justiziabel freilich ist das nicht; und: Elena bringt in Peru während ihrer Reise die beiden minderjährigen Kinder bei einer Tante unter, muss 750 Sol zahlen, das reicht fürs Essen, das Mietgeld muss sie nachreichen ... Auch hier ist das Familiäre mit dem Finanziellen eng verknüpft.

Familie, Liebe, Verlust und Trauer auf der einen Seite; Gesetz, Fakten und Beweisbarkeit auf der anderen Seite. Und dazu die Verführungskraft des Geldes, der Wirtschaftsnation Deutschland – Kontraste und Ambivalenzen führt Frieder Schlaich zu einem mitreißenden, so spannenden wie naturalistischen Familien- und Justizdrama zusammen.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/naomis-reise