Mountain (2017)

Bergandacht

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Mountain beginnt nicht so, wie man es bei diesem Titel erwarten würde. Stattdessen: Geigen, Flöten, ein stimmendes Orchester. Nach einem kurzen Moment der Irritation erkennen wir Willem Dafoe an einem Mikrofon und schließlich die Leinwand. Wir befinden uns in dem Aufnahmestudio, in dem er und die Instrumentalisten dem Dokumentarfilm seine Tonebene hinzufügen. Diese ersten Bilder hinterlassen Eindruck: besonders in den Momenten, in denen die Musik sich laut in den Vordergrund drängt, stellt sich das Gefühl ein, nicht einfach ‚nur‘ einen Film zu sehen, sondern eher einem Konzert, einer Performance beizuwohnen.

Schließlich Bilder, mit denen man rechnet. In erhabenen Bögen kreist die Kamera der australischen Regisseurin Jennifer Peedom um Berggipfel und -kämme herum. In einigen Schwarz-Weiß-Aufnahmen geraten die Berge zu beinahe abstrakten Gebilden und Mustern aus Licht und Schatten. Dann sehen wir – wieder in Farbe – winzige Kletterer, die ungesichert an Steilwänden hängen oder an den Abbruchkanten gigantischer Gletscher entlang stapfen. In Zeitlupe gleiten Skifahrer die weißen Hänge hinab, Schnee und Eis knirschen unter den Steigeisen und Augenblicke der totalen Erschöpfung wechseln sich mit Momenten unbändiger Freude ab, wenn ein Gipfel endlich erklommen ist. Hin und wieder betet ein buddhistischer Mönch.

Über all dem dräut in Mountain die tiefe Stimme von Willem Dafoe. In Verbindung mit den archaischen Bilderwelten erinnert das ein wenig an die Voice-Over in den Dokumentarfilmen von Werner Herzog. Vor etwa 300 Jahren wurden die Berge noch gemieden, erzählt Dafoe. Sie hätten als Sphäre der Götter gegolten, als lebensfeindlich oder als Monsterterritorium. Irgendwann sei diese Zurückhaltung von einer unstillbaren Faszination abgelöst und schließlich zur Obsession geworden. Wenige historische Aufnahmen früher Bergsteigerpioniere wechseln schnell wieder zu zeitgenössischem Material. An dieser Stelle fällt zum ersten Mal auf, dass weder die Worte Willem Dafoes noch die Bilder des Films je spezifisch werden. Wer nicht mit überdurchschnittlichen geografischen Kenntnissen gesegnet ist, wird nicht immer erkennen, in welchem Gebirge wir uns befinden. Der Mount Everest ist der einzige Berg, der in Mountain je beim Namen genannt wird. Ansonsten: keine Personen, keine Daten, keine Fakten.

Peedom scheint in ihrem Film nicht in erster Linie Wissen vermitteln zu wollen. Stattdessen ist sie voll der Bewunderung, zelebriert das Majestätische der Berge in epischen Bildern, die Bedauern darüber auslösen, dass der Film nur in wenigen Kinos startet. Schnöde Details sind zu nichtig für dieses große Ganze. Es ist ein bisschen wie in der Kirche – einigen kann man sich da immer auf die Musik. Vivaldis Vier Jahreszeiten, Chopin, Beethoven, später Arvo Pärt. Sogar die Dramaturgie des Films folgt jener eines Gottesdienstes: nachdem wir uns ausgiebig an der Faszination der Berge ergötzt haben, ist es Zeit, mahnend den Zeigefinger zu erheben. Im Zeitraffer zeigt die Regisseurin uns jetzt Autos und Busse in waghalsigen Serpentinen, Parkplätze, Schlange stehende Urlauber, Sessellifte, Seilbahnen, Skilangläufer. Auf Winterkleidung und Fallschirmen prangen bunte Logos und Markennamen – und nachdem eine Stunde lang jedes zu weltlich anmutende Detail vermieden wurde, erscheinen diese Insignien des Kapitalismus nun tatsächlich fehl am Platz, unwürdig die Reinheit der Natur zu besudeln. Wenn Dafoe in diesen Momenten davon spricht, dass der Mensch heute den Berg nach seinen Wünschen und ökonomischen Kalkulationen modifiziert, klingt das ein bisschen, als blicke ein Gott verbittert auf seine Schöpfung herab.

Mit gravitätischem Universalitätsanspruch spricht Dafoe von „wir“, von „uns“ – den Menschen. Tatsächlich meint er nur einen sehr kleinen, elitären Kreis. Jene, die sich den Luxus leisten können, kostspielige Hobbys zu unterhalten, die mehr Risiko bieten als ihr alltägliches Leben. Wer vor 300 Jahren in irgendeinem gottverlassenen Bergdorf im Himalaya geboren wurde, konnte die Berge nicht meiden. Und wer heute noch in diesem gottverlassenen Bergdorf lebt, gehört aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zum regulären Sesselliftpublikum. Dafoes Voice-Over deutet in einem Nebensatz an, dass das Geschäft mit den Bergen zumeist auf Ausbeutung beruht. Aber Peedom geht dem nicht nach – ganz anders als in ihrem vorherigen Werk Sherpa - Trouble on Everest. Sie bettet solche Bemerkungen ohne Konsequenzen in ihr essayistisches Konzept ein, geht schlussendlich wieder zu Landschaftsaufnahmen über. Das schmälert nicht die visuelle Kraft von Mountain. Aber lässt seine Aussagen doch wie eine Verkürzung wirken. Wir, die Menschen – diese Einheit gibt es vielleicht vom All aus betrachtet. Aber sicher nicht aus der Perspektive der westlichen Welt.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/mountain-2017