Familiye (2017)

Blut ist dicker als Wasser

Eine Filmkritik von Björn Helbig

Drei türkische Brüder – der eine spielsüchtig und bei gefährlichen Kredithaien hoch verschuldet, der andere nach 5 Jahren endlich aus dem Knast freigekommen und der jüngste mit dem Down-Syndrom geboren und kurz davor, in ein Heim abgeschoben zu werden. Schon diese paar Sätze lassen die Fülle der Themen erkennen, um die es in Kubilay Sarikayas und Sedat Kirtans Debüt-Film – unter anderem – geht.

Denn da ist noch eine Frau, die aus der Psychiatrie ausbricht und bei den Brüdern einzieht. Und noch eine Vielzahl weiterer Personen: Verwandte, Freunde, Gangster, Nachbarn, Sozialarbeiter, die den Mikrokosmos des Spandauer Lynar-Kiezes mit Leben füllen.

Wer jetzt denkt, Sarikayas und Kirtans in künstlerischem schwarz-weiß gehaltener Film wäre vielleicht überfrachtet, liegt damit nicht ganz falsch. Schon nach einer halben Stunde kennt man neben den Brüdern, dem Spieler Miko (Arnel Taci), dem entlassenen Danyal (Kubilay Sarikaya) und Muhammed (Muhammed Kirtan), sowie ihrer neuen Mitbewohnerin Sila (Violetta Schurawlow) zahlreiche weitere Figuren. Zudem wechselt die Erzählperspektive munter zwischen den Charakteren hin und her, und der Zuschauer ist sich mit zunehmender Spielzeit möglicherweise immer unsicherer, um wen oder was es in dem Film eigentlich geht. Um was geht es denn? Dass lässt sich leider wirklich nicht ohne Weiteres beantworten. Die verschiedenen Themen des Films laufen ohne besondere Priorisierung durch ihre Macher bis zum Ende parallel, manchmal werden sie zu Ende erzählt, manchmal einfach fallen gelassen. Auch wenn Mirkos Schulden oder die drohende Inobhutnahme von Muhammed sicherlich zu den roten Fäden des Films zählen, lässt dieser sich nicht drauf reduzieren.

Interessanterweise schadet dieses Durcheinander an Figuren, Perspektiven und Handlungssträngen wenig. Denn Familiye ist trotz des Gangster- und einigen anderen Subplots wohl noch am ehesten – wie der Titel auch andeutet – ein Film über eine Familie. Und zwar eine ganz besondere. Denn genauso organisch und urwüchsig, wie die konkreten Ausprägungen von Lebensgemeinschaften sein können, verhält sich auch dieses Werk. Wer diesen Schritt mitgeht, kann sich eigentlich nur noch entspannt in den Kinosessel fläzen und die Vorführung genießen. Dann bietet der Film wirklich einiges: Das raue Leben im Spandauer Ghetto ist durchzogen mit skurrilen Szenen von einiger Poesie und Schönheit. Witzige Momente wechseln sich ab mit tragikomischen und wirklich dramatischen, die einen schlucken lassen.

Sicher, nicht alles passt, aber das ist nicht weiter wild. Selbst Szenen ohne richtige Funktion, die nicht schlecht sind, aber das Ganze auch nicht weiter voranbringen und die in vielen Produktionen wohl dem Schnitt zum Opfer gefallen wären, bereichern den Gesamteindruck. Dass das funktioniert, liegt auch an den Darstellern, die ihre nicht komplett klischeefreien Figuren immer mit der nötigen Ambivalenz und Mehrdimensionalität ausstatten. Man sieht ihnen einfach gerne zu. Da ist es manchmal, wie zum Beispiel im Falle von Violetta Schurawlow (Die Hölle – Inferno) und ihrer Figur Sila, etwas schade, dass zu viel offenbleibt. 

Sicherlich ist Familiye nicht der größte anzunehmende Wurf in seinem Genre. Dazu gibt es zu vieles, dass man ihm vorwerfen könnte (überladen, unentschlossen, unfertig ...) Aller möglichen Kritik zum Trotz ist es aber auch möglich, eine andere Sichtweise einzunehmen und die Stärken von Sarikayas und Kirtans Film hervorzuheben. Wem das gelingt, der hat die Chance, über knapp 90 harte, aber auch charmante und warmherzige Minuten in eine Parallelwelt einzutauchen, in der zwar auch andere Regeln und Gesetze gelten, die aber gleichzeitig ein weiteres Kuriosum zum Panoptikum der Möglichkeiten hinzufügt, Familie zu leben.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/familiye