Neben den Gleisen

Zu Besuch beim Stammtisch in Mecklenburg

Eine Filmkritik von Maria Wiesner

Boizenburg an der Elbe. Eine Kleinstadt im Westen von Mecklenburg-Vorpommern. 10.000 Einwohner. Früher arbeitete man hier auf der Werft. Heute stellt Trolli hier Gummibärchen her. Wenn die Schichtarbeiter aus der Nacht nach Hause fahren, bleiben sie gern noch bei Bernd hängen. Der hat die verfallene Wartehalle neben dem Bahnsteig gepachtet und einen Kiosk daraus gemacht. Drinnen ein paar Stehtische, zwei, drei Bänke, ein paar Spielautomaten, ein Fernseher, der meist Sport zeigt und manchmal Nachrichten. Draußen donnern die Güterzüge vorbei, der ICE hält hier auch nicht. Nur die Regionalbahn auf dem Weg nach Hamburg oder Schwerin macht noch Halt. Und wenn man auf die wartet, holt man sich bei Bernd einen Kaffee oder Zigaretten oder gleich das erste Bier des Tages. Und manche machen das auch, wenn sie gar nicht auf einen Zug warten müssen.
So wie Micha, der schon ab 5.00 Uhr hier sitzt, wenn Bernd den Kiosk aufschließt. Er sagt, er könne schlecht schlafen, habe Albträume von New York. Da war er mal vor 25 Jahren. "Damals hieß es in meinem Reiseführer, das sei die gefährlichste Stadt der Welt", sagt Micha. Davon träumt er noch heute. Seine Tage verbringt er am Kiosk, wechselt irgendwann von Kaffee zu Bier und raucht endlos viele Zigaretten. Und natürlich unterhält er sich mit den anderen Stammgästen. Dem Langzeitarbeitslosen, der seit 2003 keinen Job mehr hatte und sich darüber aufregt, dass das Arbeitsamt ihn nun an eine Leiharbeitsfirma verwiesen hat, die gerade einmal 8,20 Euro pro Stunde zahle. "Das ist nicht mal der Mindestlohn, ich verkauf mich doch nicht unter Wert", sagt er. Da ist der Junge, der mit 19 schon aussieht wie Ende 20. "Ich hab mit dem Alkohol angefangen als ich acht war", sagt er. Damals war er bei einer Pflegefamilie und seine Mutter rief ihn an, um ihm zu sagen, dass er ein ungewolltes Kind war und sie keinen Kontakt mehr wolle.

Da sind viele andere und es wäre sehr leicht, diese Menschen als die Abgehängten zu bezeichnen. Jene am Rand der Gesellschaft, die es eben nicht geschafft haben. Jene, über die man manchmal eine große Reportage in der Süddeutschen oder dem Zeit Magazin liest. Und wie eine solche Reportage ist auch der Dokumentarfilm Neben den Gleisen von Dieter Schumann angelegt. Er stellt ihnen aus dem Off hinter der Kamera Fragen zu ihrer Lebensgeschichte oder ihren politischen Ansichten, bewertet sie aber nicht, stigmatisiert sie nicht zu "den Abgehängten". Vielmehr bleibt er mit der Kamera Beobachter und sammelt die Geschichten der Einzelnen zu einem großen Porträt zusammen, das von Dingen erzählt, die so in vielen Kleinstädten im Osten der Republik zu finden sind: Arbeits- und Perspektivlosigkeit, zerbrochene Beziehungen und wilde Jugendlieben, aber eben auch Politikverdrossenheit und ausländerfeindliche Parolen. Denn natürlich kommen auch durch Boizenburg an der Elbe syrische Flüchtlinge.

Und natürlich reden die Stammgäste in Bernds Kiosk so, wie man es von einem Stammtisch erwarten würde. Man habe ja nichts gegen die Kriegsflüchtlinge, aber ... Und an dieser Stelle kommen dann Vorurteile, Gerüchte und die wildesten Geschichten. Auch wenn Schumann diese Stammtischparolen ohne eigenen Kommentar zeigt, so kann doch der Schnitt in Neben den Gleisen als Statement gelesen werden. Nach dem wütenden Langzeitarbeitslosen, der sich über die inkompetente staatliche Unterstützung aufregt, kommen vier syrische Flüchtlinge zu Wort, die sagen, dass sie "einfach nur in Frieden leben" wollen. Nach den Stammtischparolen, die geschlossene Grenzen feiern und davon sprechen, dass "die Ausländer alles vom Staat bekommen", folgt die Autofahrt ins chaotische Aufnahmezentrum. Auf den jungen Mann, der davon spricht, dass er sich kaum noch als Deutscher fühle, folgt der Russe, der davon schwärmt, dass Deutschland das Land sei, in dem noch Träume wahr werden könnten. Er ist gelernter Physiotherapeut. In Boizenburg arbeitet er in Schichten in der Bonbonfabrik.

Neben den Gleisen ist manchmal so hart, dass es wehtut. Der Film zeigt die Menschen, die rechte Parteien wählen. Er stellt ihre Biografien vor und ergründet, woher der Hass und die Verdrossenheit kommen. Ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl bringt er damit einen wichtigen Einblick in die Gesellschaftsschichten, die bei den politischen Diskussionen so gern vergessen werden.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/neben-den-gleisen