American Anarchist

Vom Umgehen mit der Schuld früher Tage

Wie fühlt es sich an, wenn man im jugendlichen Furor ein Buch geschrieben hat, das mittlerweile wohl eines der berüchtigtsten Werke der Literatur- und Zeitgeschichte sein dürfte? Wie lebt man als Autor eines Traktats, das buchstäblich und sehr konkret viel Leid, Elend und Tod über die Menschheit gebracht hat? Und wie nimmt man aus der Entfernung von mehr als 40 Jahren diese Schuld an und bewältigt sie, die man mit der Urheberschaft an dieser in Buchform gepressten Büchse der Pandora auf sich geladen hat?

Dies sind die Fragen, mit denen sich Charlie Siskel (Finding Vivian Maier) in seinem neuen Werk American Anarchist auseinandersetzt. Getrieben von journalistischer Neugier hat der Regisseur William Powell aufgespürt, der im Alter von 19 Jahren The Anarchist Cookbook geschrieben hat, eine Art DIY-Anleitung für Guerillakampf und Bombenbau, in der der damals 19-jährige politisch Bewegte Erkenntnisse aus (im Übrigen frei verfügbaren) militärischen Handbüchern zu einem Kompendium des Grauens und des Terrors zusammenfügte. Das war im Jahr 1969, mitten in den zunehmend gewalttätiger werdenden Auseinandersetzungen und Protesten der aufbegehrenden amerikanischen Jugend gegen den Vietnamkrieg. Mittlerweile gelten die "Kochrezepte" (neben Anleitungen zum Bombenbau, zur Sprengung von Brücken sowie Gleisanlagen und der Herstellung eines Schalldämpfers enthielt das Kompendium auch Gebrauchsanleitungen zur Fabrikation von LSD) als veraltet und zum Teil sogar als unzuverlässig, wenn nicht sogar gefährlich. Dennoch ist die Wirkung des Buches bis heute gewaltig, es befand sich im Besitz von Amokläufern wie den Tätern des Columbine-High-School-Massakers und anderer High-School-Shoot-outs, inspirierte die rechtsgerichteten Attentäter des Anschlags auf das FBI-Gebäude in Oklahoma City im Jahre 1995 und findet heute selbst in Kreisen islamistischer Terrorzellen Verbreitung. Kein Wunder also, dass der Besitz des Buches (gleichwohl dessen Erwerb in den USA, der Schweiz und Deutschland legal ist) in Großbritannien und den USA als Indiz für eine Anklage wegen terroristischer Aktivitäten gilt.

William Powell, der heute im französischen Exil lebt, ist längst geläutert und auf ganz anderem Gebiet als dem Bombenbau ein gefragter Experte: Gemeinsam mit seiner Frau kümmerte er sich viele Jahre lang um benachteiligte Kinder und Gewaltprävention in Schulen rund um den Globus. Aus dem Revolutionär von einst ist ein besonnener, kluger und überaus reflektierter Mittsechziger mit grauem Bart und Haupthaar geworden, der gleichwohl mit den Dämonen der Vergangenheit zu kämpfen hat. In langen Interviewpassagen sehen wir ihn mit der Verantwortung ringen, die er einst auf sich geladen hat und die er zeit seines Lebens mit sich herumträgt. Es ist vor allem Siskels insistierende, nachbohrende Fragetechnik, die ihn immer wieder nach Worten ringen lässt, ihn zum Verstummen bringt, zum Schweigen, zum Seufzen, zum Wiederansetzen, zu neuen Erklärungsversuchen, zu Rechtfertigungsversuchen, Bekenntnissen – und zu einem kleinen Wutausbruch: "Was willst du eigentlich von mir hören?", bellt dieser sympathische Mann da in die Kamera, atmet schwer und hat sich dann doch schnell wieder im Griff.

Allerdings wird man als Zuschauer das Unbehagen, das einen nicht nur an dieser Stelle ergreift, so schnell nicht wieder los. Die immer wieder unangemessen eingestreute Musik, Siskels manchmal fast schon ans Impertinente grenzende Fragen (unwillkürlich kommen einem Verhöre oder Beichten als ähnliche Gesprächsmuster in den Sinn) und das Insistieren auf einem Bekenntnis, das vor allem ihn, den Filmemacher, zufriedenstellen soll, lassen den Eindruck entstehen, dass hier an einigen Stellen eine Grenze überschritten wurde.

Überaus sehenswert ist American Anarchist dennoch – oder vielleicht gerade deswegen: Möglicherweise unbeabsichtigt spiegelt sich in der Frage nach der moralischen Verantwortung von William Powell auch die Frage nach derjenigen von Charlie Siskel, damit regt der Film sowohl zum Nachdenken über einen beeindruckenden Mann und dessen Schuld wie auch über die Frage an, wie weit man als Filmemacher eigentlich gehen darf.

Am Ende verrät eine Texttafel, dass William Powell im Sommer 2016 überraschend verstorben ist, und man wünscht sich inständig, dass er vorher seinen Seelenfrieden gefunden hat und nicht an einem gebrochenen Herzen wegen seiner Urheberschaft an dem Anarchist Cookbook gestorben ist.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/american-anarchist