Casting JonBenet (2017)

Keine Erklärung für alles

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

"Did you know who killed JonBenét?", fragt nach den ersten Bildern ein sechsjähriges Mädchen in die Kamera. Nein, die Regisseurin Kitty Green weiß nicht, wer JonBenét getötet hat, bisher weiß niemand, wer diese Tat begangen hat. Im Jahr 1996 wurde die damals sechsjährige JonBenét Ramsey im Keller ihres Elternhauses in Boulder, Colorado ermordet aufgefunden.

Zuvor hatten ihre Eltern Patsy und John die Polizei verständigt, nachdem sie im Treppenhaus ihres Hauses einen Erpresserbrief gefunden haben, in dem 118.000 Dollar Lösegeld für ihre Tochter verlangt wurden. Während die Polizisten auf den im Brief angekündigten Anruf des Entführers warteten, durchsuchten die Ramseys das Haus – und John fand die Leiche seiner Tochter.

Dieser Fall hat für ebenso viel Aufsehen wie Spekulationen gesorgt. JonBenét nahm erfolgreich an Schönheitswettbewerben für Kinder teil, sie verkörperte gewissermaßen das perfekte blonde All-American-Girl. Zudem gerieten früh die Eltern ins Visier der Ermittler – es wurde vermutet, Patsy könnte aus Eifersucht oder Wut, John zur Verdeckung des sexuellen Missbrauchs die Tat begangen haben. Auch JonBenéts neunjähriger Bruder Blake wurde immer wieder verdächtigt. Aber die Beweise waren nicht eindeutig, hinzu kamen Ermittlungspannen der zuständigen Behörden. Erst zehn Jahre später schien eine Wende zu kommen, ein Sexualstraftäter legte ein Geständnis ab, das letztlich jedoch widerlegt werden konnte.

In ihrem Film Casting JonBenet nähert sich Kitty Green diesem Fall nun an, indem sie vorgibt, einen Film über diesen Fall drehen zu wollen und dafür Schauspieler zu suchen. Nahezu ausschließlich sind somit die Frauen, Männer und Kinder zu sehen, die sich um die entsprechenden Rollen bewerben – und die Erwachsenen haben alle Theorien, Erklärungen und Meinungen zu diesem Fall, außerdem scheinen viele aus der Gegend der Ramseys zu kommen, so dass sie persönliches Erleben beisteuern können. Durch diese Interviews wird anfangs der Fall aufgearbeitet, wird auf Spekulationen hingewiesen, werden Fehler der Polizei benannt – und immer wieder mögliche Tathergänge rekapituliert und Verschwörungstheorien entwickelt. Dabei zeigt sich sehr deutlich, wie schwierig die Ausgangssituation ist, wie viel Faszination es für diesen Fall noch heute gibt – und wie leicht sich Beweise in immer neue Erklärungen pressen lassen.

In diesen Interviews gibt es neben dem Fall JonBenét Ramsey aber noch eine zweite Ebene in diesem Film, die sich insbesondere anfangs als problematisch erweist: die jeweiligen Vorsprechenden für die Rollen erzählen etwas über sich selbst und werden bisweilen vorgeführt. Darunter ein Sex-Educator, der zunächst verschiedene Schlagmittel vorstellt, oder die Jungen, die für die Rolle von Blake vorsprechen, werden gebeten, eine Wassermelone zu zertrümmern, was vom Publikum mit Lachen quittiert wird, obwohl damit doch eigentlich bewiesen werden soll, dass der Neunjährige seiner Schwester den Schädel hätte einschlagen können. Hier stellt sich mehr als einmal die Frage, ob die Schauspieler_innen wussten, dass sie nicht wirklich an einem Casting teilnehmen, sondern diese Bilder im fertigen Film zu sehen sein werden. Erst im weiteren Verlauf des Films stellt sich durch die Vorsprechenden ein Mehrwert ein: Der Sex-Educator betont, dass seiner Meinung nach die Verletzungen im Intimbereich von JonBenét nicht durch ein Fahrrad verursacht wurden, sondern auf Missbrauch hinweisen. Einzelne Bewerber_innen sprechen von persönlichen Erfahrungen mit Missbrauch, Gewalt, Mord und Verlust. Hier entwickelt der Film zusehends eine Dynamik, die ihm anfangs verloren zu gehen droht.

Am Ende steht dann eine Rekonstruktion aller möglichen Tathergänge, die nicht nacheinander, sondern sukzessive und letztlich gleichzeitig im Bild stattfinden. Mutter, Vater, Tochter und Sohn bewegen sich zwischen Elternschlafzimmer, Flur und Kinderzimmer. Manche schlafen, andere streiten, wieder andere weinen oder sind verzweifelt. Es ist ein starker Abschluss für einen Film über einen verfahrenen Fall, der noch stärker gewesen wäre, wenn die Regisseurin auf die überbordende Musik verzichtet hätte. Insgesamt aber dekonstruiert Kitty Green in ihrem Film den Glauben an eine übergeordnete Wahrheit in diesem Kriminalfall. Es gibt nicht die eine Erklärung für alles, es gibt lediglich verschiedene Meinungen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/casting-jonbenet